6. Forumsrundbrief 2013 der Gelsenkirchener Geschichten

Alle Rundbriefe der Gelsenkirchener Geschichten - bitte lest sie, um einen Eindruck über die Entwicklungen und Veränderungen zu bekommen.
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6. Forumsrundbrief 2013 der Gelsenkirchener Geschichten

Beitrag von Verwaltung »

6. Forumsrundbrief 2013 der Gelsenkirchener Geschichten

Der Gastbeitrag im sechsten Rundbrief des Jahres 2013 kommt von Rapor

Liebe GG'ler,
erst einmal etwas Erbauliches, die Tage werden langsam wieder länger und die Bundesliga hat Winterpause. Ersteres erfreut mein Gemüt, das Zweite sorgt für weniger Stress und Aufregung. Obwohl ich mir da nicht so sicher bin!

Bei mir ist es wirklich so, dass Schalke, also der Verein und das Drumherum, bei mir für mehr und intensivere emotionale Momente sorgt, als Weihnachten! Ich bin kein Angehöriger einer Religion, glaube allerdings eine Menge. Glauben heißt für mich, etwas nicht wissen. Und ich weiß eine Menge nicht! Ich glaube aber auch eine Menge nicht, von dem, was Menschen im Laufe der Jahrtausende erzählt haben.

Da ist es mit unserem Forum einfacher.

Aus meiner Sicht sind die Gelsenkirchener-Geschichten ruhiger geworden, unaufgeregter, dadurch aber auch weniger emotional. Viele Informationen, weniger Meinungen und Auseinandersetzungen. Gerade einmal bei Themen wie „Papst Franziskus“ kommen sehr unterschiedliche Ansichten auf, kocht es etwas hoch.

Ich will daraus keine Bewertung ableiten. Es fühlt sich ähnlich an, wie ich zurzeit mein Leben empfinde. Das prägt wohl auch meine Wahrnehmung.

Wieder geht ein Jahr zur Neige. Ich vermute mal, mit fast 60 habe ich meinen vielleicht letzten größeren Stellenwechsel hinter mir. Selbst gekündigt, mit einer neuen, anscheinend Wunschanstellung. Das zerschlug sich blitzartig - und ich war wieder einmal ohne Job. Für mich nichts Ungewöhnliches. Außerdem Sommer!

Also gemächliche Suche, Bewerbungen und einige wenige Vorstellungsgespräche. Die meisten im Team sind ungefähr halb so alt wie ich, im Durchschnitt, eher noch jünger! Mein bewegter Lebenslauf interessiert einige Menschen, scheint aber niemanden abzuschrecken. Dann mit einer kurzfristigen telefonischen Bewerbung, Gespräch am nächsten Morgen, Einstellung keine 12 Stunden später. In unserer Stadt, 20 Minuten zu Fuß, vermittelt mit Hilfe des Internets.

Das ist wieder der große Bogen zurück zu uns, den GG.

Hier bin ich mittlerweile länger, als ich jemals in meinem Leben an einem Stück, geschweige denn bei einem Unternehmen gearbeitet habe. Na ja, als Honorarkraft, immer wieder mal, schon. Seit 2008 gehört dieses Forum auch zu meinem Leben. Ich glaube, nur in meiner Reha war ich mal länger nicht dabei. Einige Menschen habe ich durch das Forum näher kennengelernt, obwohl ich hier bevorzugt eher unpersönlichen Kontakt über das Netz halte. Das ist, für mich, internetypisch.

Vielleicht liegt es auch daran, dass ich beruflich nur mit Menschen zu tun habe und ansonsten recht zurückgezogen lebe.

Ich genüge mir, je weiter mein Leben voran schreitet, immer mehr selbst. Nie war ich, insgesamt betrachtet, zufriedener und dankbarer. Dankbar hier geboren zu sein, in diesem Land und dieser Zeit. Nie habe ich Krieg, Flucht oder Hunger leben und erleben müssen! Immer genug zu essen und ein Dach über dem Kopf. Und Möglichkeiten Geld zu verdienen oder zu bekommen. Meist war ich eher arm, nach normalen Maßstab. Dafür hatte ich die Zeit für mich, die ich aber auch brauch(t)e. Meine Rente habe ich als junger Mann genommen, sozusagen. Ich werde also auch nach erreichen des sogenannten Rentenalters arbeiten müssen, können, dürfen.

Ebenso wie unser Verein, der FC Schalke 04, habe ich an Gewicht gewonnen. Ich wiege erstmals in meinem Leben, über längere Zeit, ungefähr soviel, wie meine Größe minus Hundert! Die längste Zeit meines Lebens unvorstellbar. Das liegt nicht nur an der gewachsenen Muskulatur!

So wie es bei Schalke auch eine größere Behäbigkeit zu geben scheint. Was kotzt mich unser Spiel zurzeit meist an, egal wo wir statistisch oder sonst wie stehen! Ich empfinde Stillstand und/oder Rückschritt, das gefällt mir nicht, das regt mich auf. Naja, da merkt man halt, das man noch lebt.

Apropos leben/Leben.

Das Jahr war für mich spannend und mit Überraschungen gespickt, mal sehen wie es im nächsten Jahr wird!

Ich wünsche Euch Allen ein gutes und möglichst euren Ansprüchen entsprechendes Leben. Auch im neuen Jahr 2014! Eventuell überprüft einfach mal die Ansprüche!

Gutgehn, Glück auf und alles Gute

wünscht Euch Meinrad / rapor

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Ab hier schreibt die Verwaltung

Das Jahr 2013 geht allmählich zu Ende. Wir haben "das verflixte siebte Jahr" gut überstanden. Die Gelsenkirchener Geschichten gibt es immer noch, trotz der Unkenrufe verschiedener User. Weiterhin freuen wir uns über die zahlreichen kreativen Beiträge von alten und neuen Usern hier. Die Zahl der Neuanmeldungen für das aktuelle Kalenderjahr beträgt 318.

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"Striezelkinder" auf einem Holzschnitt von Ludwig Richter
"Ausverkauf wegen Geschäftsauflösung"
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Leider ist der im November der geplante Usertreff ausgefallen. Obwohl sich letztendlich eine ausreichende Zahl an Usern angemeldet hatte, konnten aus technischen Gründen die Filme aus, von und über Gelsenkirchen, die den Schwerpunkt des Abends bilden sollten, nicht vorgeführt werden.

Damit hatte dieser Usertreff einen wesentlichen Grund verloren und wir hatten uns zu einer Absage entschieden. Aber - wie auch dort im Fred schon gesagt - aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Wir werden im neuem Jahr einen Termin finden und erneut zum Usertreff einladen.

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„War was? Heimat im Ruhrgebiet“

Unter dem Titel: "WAR WAS? Heimat im Ruhrgebiet – Erinnerungsorte und Gedächtnisräume" läuft ein Wettbewerb des Forums Geschichtskultur an Ruhr und Emscher e.V.
"Der Wettbewerb schenkt kleinen wie großen Werken gleichermaßen Beachtung und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Beschäftigung mit Ruhrgebietsgeschichte. Er fördert den gegenseitigen Austausch der regionalen Geschichtskultur und ist so einzigartig in seiner Art. Er wird seit 1991 mit finanzieller Unterstützung verschiedener Institutionen durchgeführt."

Wir haben dazu unsere Bewerbung eingereicht und bereits ein sehr freundliches Antwortschreiben erhalten, in dem man uns mitteilte, dass die Jury dazu im Frühjahr 2014 tagen würde. Die Preisverleihung der Gewinner sei für den Frühsommer geplant.

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[center]Bild
Der Weihnachtsbaum vor dem Hans-Sachs-Haus / Foto : uwe1904[/center]

Wieder einmal - und immer wieder - erreichte uns die Ankündigung einer Abmahnung, weil ein User einen Beitrag irgendwo im World-Wide-Web gefunden, kopiert und hier bei uns als seinen Beitrag eingestellt hatte. Zum Glück konnten wir den Fall gütlich regeln. Wir bitten Euch ganz dringend zu prüfen, ob noch irgendwo Beiträge eingestellt sind, die aus urheberrechtlicher Sicht bedenklich sind. Es ist besser, wir löschen diese Beiträge, bevor eine Abmahnung Kosten verursacht, die wir natürlich von dem Verursacher erstattet haben wollen.

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Zuzu hat von einem Bekannten, dem Hobbyautor Roman Dell, eine schöne Geschichte bekommen, die wir an Euch weiter geben wollen:

"Deutschland. (K)ein Wintermärchen?" (Kurzgeschichte)

Die Deutschen mögen keinen Winter. Das ist historisch bewiesen. Diese lausige Kälte, Eisregen und grauer Himmel. Wer wird schon dabei nicht krank oder depressiv? Kein Wunder, dass selbst der große Dichter Heinrich Heine von dieser dunklen Jahreszeit so mitgenommen war, dass er während der gesamten Deutschland-Reise sich nur noch über die Menschen und Missstände im Land zu beklagen hatte und dabei solch unerfreuliche Zeilen, wie diese, schrieb:
  • Noch immer das hölzern pedantische Volk,
    Noch immer ein rechter Winkel
    In jeder Bewegung, und im Gesicht
    Der eingefrorene Dünkel.
Dabei sehnt sich die deutsche Seele regelrecht nach Sonne und Wärme. Schnee und Frost kann sie nicht gebrauchen. Auch meine Kollegen im Büro. Als heute Morgen der erste Schnee auf die grauen Pflastersteine der Stadt fiel, sorgte dieser plötzliche Winterausbruch sofort für eine heftige Diskussion. Manch einer findet den Schnee richtig toll, der andere wiederum überhaupt nicht. Die Letzten bilden bei uns eine absolute Mehrheit. Daher bin ich der Einzige, der sich an den schneeweißen Straßen und Feldern Gelsenkirchens erfreut. Meine Kollegen hassen Schnee. Wenn es nach ihnen gehen würde, hätten sie das Wetter am Liebsten wie in einem Katalog, ganz nach ihren persönlichen Wünschen und Bedarf per Mausklick bestellt. So auch der smarte Kollege mit einem Stapel Papiere, der zu uns täglich auf einen Small-Talk vorbei kommt:
  • - Meine Kinder sind schon groß. Daher bin ich nicht so für Schnee. Zwei Tage Schnee im Jahr, am Besten direkt vor Weihnachten, würden mir völlig reichen. Vor allem, wenn ich zu Hause bin und nicht zur Arbeit muss. Dann passt das schon. Sonst muss ich mein Auto kratzen. Bei der Kälte! Igitt! – beklagt er sich laut über die zugefrorenen Fensterscheiben. Für ihn ist der Winter der Inbegriff einer Katastrophe.
    Der andere Mitarbeiter, ein solider Herr mit Hornbrille, ist auch ganz seiner Meinung.
    - Silvester darf es, meinetwegen, noch ein Mal richtig schneien, damit die Kinder auch ihre Späßchen haben. Aber dann ist Schluss. Sonst wird mir der Winter zu nervig und zu ungemütlich. Glatt, kalt, schmutzig. Was ist daran schön?- stellt er gereizt und kategorisch fest.
Das ist die Meinung der meisten. Leider sorgt der Schnee in Deutschland kaum für Freude, aber sehr wohl für Ärger und Aufregung. Allein bei dem Wort Schnee ziehen die meisten Deutschen sofort lange Gesichter. Nasse Schneeflocken, dicke Eiszapfen, Glatteis und niedrige Temperaturen. Darüber kann sich wirklich nur ein Russe freuen. Die Deutschen lässt der Winter völlig kalt. Und wenn es einmal tatsächlich schneit, klappt in der Bundesrepublik überhaupt nichts mehr.

Post und Straßenbahn sind chronisch zu spät, TV-Empfang funktioniert nicht, örtliche Geschäfte und Restaurants haben Lieferengpässe und im Baumarkt fehlt es an Streugut und Salz. Auf der Autobahn häufen sich die Unfälle. Der Stadtverkehr ist schon längst kollabiert. Die hupenden Autos rühren sich kaum von der Stelle. Aber auch die Passanten bewegen sich wie auf einem Minenfeld. Der Wetterbericht verspricht nur wenig Positives. Es herrscht ein Ausnahmezustand. Der Deutsche flucht und ich kann es nicht fassen. Ein bisschen Schnee… wirft eine ganze Zivilisation aus der Bahn.

Dabei ist Deutschland vor allem zur kalten Weihnachtszeit besonderes schön. Im Fernsehen laufen Kinder- und Märchenfilme, Pralinen und Weinbrandhersteller werben mit neuesten Kreationen, Häuser und Straßen werden feierlich dekoriert. Die Menschen sind auf der Jagd nach Schnäppchen und Geschenken. Die sonst halbleeren Straßen der Stadt sind abends wieder voll. Schaufenster und Vitrinen locken mit Angeboten und sorgen bei Jedermann für Träume und Phantasien. Es riecht nach gebratenen Mandeln und frischer Bratwurst, gezapftem Bier und heißem Glühwein, Zimtplätzchen und Schokolade. So schmecken Winter und Weihnachten in Deutschland.

Als ich vor achtzehn Jahren hierher kam und zur Weihnachtszeit über die Bahnhofstraße in Gelsenkirchen lief, erschien mir Deutschland auch wie ein Wintermärchen. Was ich hier zu sehen bekam, erinnerte mich sofort an die kitschigen Bildmotive auf den Dosen mit Nürnberger Keksen, die meinen allerersten Eindruck über Deutschland in der Sowjetunion prägten. Große Gotik-Kirchen, Männer und Frauen in altdeutscher Tracht. „Dieses Deutschland“ wollte ich jetzt mit den eigenen Augen sehen. Ich weiß noch, wie ich damals plötzlich vor dem Schaufenster eines großen Ladens stehen blieb und mein Blick von der Glasvitrine nicht abwenden konnte.

Dort standen Stier, Kuh und ein Kalb dicht beieinander. Eine richtige Tierfamilie in Echtgröße. Obwohl sie keine „echten“ Tiere waren, sahen sie täuschend echt und lebendig aus. Hin und wieder, drehten die Tiere ihre mechanischen Köpfe zum süßen Nachwuchs und schauten ihn und mich rührend an.

Diese Dekoration war ein Meisterwerk. Sie wurde mit so viel Liebe und Aufwand gemacht, dass ich mich erneut über die Deutschen und ihre Tugenden wundern musste. Wie schafften sie es, in ihrer Welt der Erwachsenen, immer noch solche Kinder und Jecken zu bleiben und so etwas Lustiges und Verrücktes zu machen? Diese Deutschen, die man überall auf der Welt für steif und pedantisch hält. Das Schaufenster im Geschäft bewies mir das Gegenteil. Ich fühlte mich von dieser Kreation sprachlos und bezaubert. So etwas Schönes und Fröhliches habe ich noch nie gesehen.

In der Sowjetunion wurden die Straßen zu Silvester zwar auch geschmückt, aber bei weitem nicht so prächtig und raffiniert wie hier. Es gab einen riesen Weihnachtsbaum auf dem zentralen Platz in der Stadt, hier und da ein Paar Papier-Girlanden, aber so eine lebensechte Kuhfamilie in den Glasvitrinen der Kaufhäuser, bunte Lichtketten und Schmuck … Das ging zu weit. So viel Aufwand hielt bei uns kein Mensch für nötig und angebracht. Die Schaufenster der Deutschen zeigten Winter in seiner ganzen Pracht: Schnuckelige Werkhäuser mit zugeschneiten Dächern, fröhliche Jungen und Mädchen mit Schlittschuhen und Ski, Männer und Frauen im Stall, die den kleinen Jesus in seiner Wiege betrachteten. Man fühlte sich von der Kraft dieser Bilder umgehauen.

Von dem Tag an wusste ich, dass das Weihnachten der wichtigste Feiertag der Deutschen ist. Sie warten und leben ein ganzes Jahr nur für diese drei herrlichen Tage. Umso weniger kann ich deshalb ihre Abneigung gegenüber dem Schnee nachvollziehen. All diese idyllischen Winterbilder im Schaufenster zu platzieren und gleichzeitig nichts von der natürlichen Schönheit dieser Jahreszeit wissen zu wollen. Das macht für mich überhaupt keinen Sinn. Wozu dann ein solcher Aufwand?

Dabei sieht der Winter ohne Schnee irgendwie künstlich und unecht aus. Zumindest für mich. Ich liebe Schnee und genieße jedes Flöckchen. Es erinnert mich an das andere Leben, damals, in Russland. Obwohl meine Familie im Süden des Landes lebte, gab es da trotzdem sehr viel Schnee. Als Kinder waren wir immer froh, wenn die Wärmleitungen in der Schule regelmäßig platzten. Das bedeutete für uns Kinder meistens schulfrei. War der Schaden jedoch schnell reparierbar, wurde der Unterricht mit Mänteln und Mützen weiter geführt. Obwohl es bitterkalt war, spielten die Meisten von uns gerne draußen. Diese weiße Pracht machte uns Kinder ausnahmslos verrückt vor Glück. Man lieferte sich gegenseitig kleine Schneeballschlachten oder machte Zielschießen auf die Eiszapfen an den Schuldächern. Zwischen den Kämpfen wurde fleißig gebaut. Eine Festungsmauer oder Schneemann, den man in Russland, warum auch immer, in der Umgangssprache das Schneeweib nennt.

Es fühlte sich so herrlich und schön an, an einem sonnigen Tag raus zu gehen und die angenehmen Nadelstiche des Frostes auf der Wange zu spüren. Die meisten Kinder wollten gar nicht nach Hause. Erst unter Androhung von Schläge schafften es die Eltern, ihre Töchter und Söhne wieder nach Hause zurück zu holen. Dort wartete schon ein Teller dampfenden Bortsch auf uns, der ohne wenn und aber in unseren Kindermägen verschwand. Als „Nachtisch“ gab es eine Portion sowjetischer Zeichentrickfilme, die zu einer bestimmten Sendezeit abends im Fernsehen liefen. Zu meinen Lieblingsfilmen zählten „Die Schneekönigin“ von H.C. Andersen und alle Folgen von „Hase und Wolf“ - einer sowjetischen Zeichentrickserie im Stile von Tom und Jerry. Ein recht einfaches und dennoch sehr glückliches und erfülltes Kindesleben.

Als ich dann eines Tages nach Deutschland kam, hatte ich zunächst kaum Zeit den Winter und Schnee zu vermissen. Im Siegerland, in dem ich die nächsten vier Jahre meines Lebens verbringen sollte, gab es auf Grund seiner geografischen Lage immer genug Eis und Schnee. Manchmal ging ich nach Draußen, streckte meine Arme aus und ließ die nassen Schneeflocken auf die Handflächen fallen. Dabei dachte ich stets an Russland und über meine Kindheit und Leben nach oder betrachtete, wie alles um mich herum langsam weiß wurde.

Unser Heim lag direkt in einem Wald und dies begünstigte meine Winterträume und Phantasie. Vor allem jene, die schaurige Ritterburgen und dunkle Wälder Germaniens betrafen, von denen ich als Kind so viel in den Romanen und Geschichtsbüchern gelesen habe. Ich fühlte mich wie ein Entdecker, der dieses Neuland Schritt für Schritt für sich erschließen will. Also machte ich lange Spaziergänge durch Täler und Hügel Hilchenbachs, die das Schülerwohnheim wie einen breiten Gürtel umarmten. Leider fand ich dabei keine Schlösser und Ritterburgen. Dafür machte ich aber eine andere Entdeckung…

Eines Tages stieg ich auf eine Anhöhe, von der man auf die gesamte Stadt blicken konnte. Nicht nur unser Schülerwohnheim, ganz Hilchenbach, nein, das ganze Siegerland, lag da praktisch vor mir Ich stand an der Spitze, atmete tief die kalte Luft ein und genoss diesen atemberaubenden Blick. Es war ein Märchen und Realität zugleich. Plötzlich fühlte ich mich von einem Glücksgefühl erfasst. Diese Landschafft war ein Meisterwerk der Natur. Kein Herz konnte vor ihrer Schönheit verschlossen bleiben oder widerstehen. In diesem Augenblick war Deutschland kein Ausland mehr.

Damals ging ich irrtümlich davon aus, dass es in jeder Ecke Deutschlands immer einen solchen Winter gibt und wurde vom Winter in Gelsenkirchen zuerst enttäuscht. Hier, im Ruhrpott, sah es nicht immer so weiß aus. Umso mehr freute ich mich, als es eines Tages auch in Gelsenkirchen zu schneien begann. Aber meine Freude war sehr kurz. Kaum war die Kronprinzenstraße in Weiß gekleidet, sah ich schon erste Menschen mit Schneeschieber und Besen in der Hand laufen, die sich fleißig auf die Arbeit stürzten und diese Schönheit und Wintermärchen binnen einer halben Stunde verschwinden ließen.

Ein Freund meines Vaters klärte mich über diese „Barbarei“ auf. Er sagte, dass nach den deutschen Gesetzen die Gehwege vom Schnee frei zu räumen sind. Würde der Hausbesitzer dieser Pflicht nicht nachkommen und jemand breche sich dabei das Bein, würde er dafür finanziell aufkommen und dem Geschädigten ein Schmerzensgeld zahlen müssen, wenn man ihn beim Gericht verklagt.

Wie so vieles in Deutschland, zählte auch dieses zu den Dingen, die man als Fremde zunächst ungewöhnlich findet und kaum nachvollziehen kann. Und so schaute ich weiter erstaunt zu, wie die Deutschen ihren Winter mit den eigenen Händen vernichten.

Inzwischen habe ich mich schon daran gewöhnt, dass man in Deutschland den Schnee sofort weg räumt. Auch finde ich das nicht mehr eigenartig oder sonderbar. Wie sagt man so schön: Andere Länder, andere Sitten. Und man lernt mit jedem Jahr ein bisschen dazu. Aber damals erschien mir die Handlung der Deutschen unbegreiflich. In Russland würde kein Mensch auf die Idee kommen, die Gehwege vom Schnee zu räumen. Die Autostraßen und Straßenbahnschienen wurden vom kommunalen Reinigungsdienst betreut, aber um den Privatsektor kümmerte sich der Staat ganz und gar nicht. Auch die Anwohner selbst nicht. Hier zählte der Schnee zu etwas Natürlichem und Unvermeidbaren. Dabei gingen die Staatsmänner stark davon aus, dass jeder sowjetische Bürger gute Augen und genügend Gehirnzellen besaß, um mit Eisglätte und Schnee allein fertig zu werden. Und wenn es nicht klappte, war man folglich zu doof und deshalb selber schuld. Keiner käme dabei auf den Gedanken sich über so etwas bei der Politik und der Stadtverwaltung zu beschweren.

Dabei zeigten die Russen wie immer, einen erfinderischen Geist. Ein sowjetisches Wissenschaftsmagazin für Kinder und Jugendliche, - Technika Molodjeschi - empfahl den Passanten die Fußsohlen ihrer Schuhe mit den Deckeln von benutzten Sprotten- und Konservendosen zu verstärken. Angeblich half es gegen das Rutschen im Winter.

Als ein gutes Oktoberkind oder Pionier bekam man von den Lehrern und der Schule die Anordnung, älteren Menschen in der Not zu helfen, was ich schon bald in die Tat umsetzen konnte.

Meine Schulklasse unternahm einen Kinobesuch, um sich einen Film über die Großtaten der Oktober Revolution anzuschauen. Auf dem Rückweg sah ich eine einsame Babuschka - eine ältere Frau - auf dem Glatteis kauern. Und schon meldete sich mein sowjetisches Pflichtgefühl. Also eilte ich zu der Frau und griff ihr bereitwillig unter die Arme. Ich wollte ihr nur helfen. Sonst nichts. Doch anstatt mir für meine Hilfe zu danken und zu versuchen langsam aufrecht zu stehen, rutschte die Frau immer weiter aus, bis sie schließlich aufs Eis fiel. Und ich mit ihr auch.

Dabei bekam ich jede Menge Schimpfwörter von ihr zu hören. Die wütende Oma verlangte von mir, dem jungen Bengel, sie in Ruhe zu lassen und nicht weiter zu belästigen, während meine Schulkameraden unserer Lehrerin brav nachliefen. Sie schien nur wenig von der Hilfepflicht eines sowjetischen Schülers zu halten.

Der Winter in Russland verlangte von dem Bürger ein Paar grundsätzliche Sicherheitsregeln. Zum Beispiel, auf keinen Fall sich in der Nähe von Dächern der großen Häuser aufzuhalten, weil man dabei das Opfer eines Eiszapfenabsturz werden konnte. Die Autobesitzer, von denen es damals, anders als heute, nur ein Handvoll glücklicher Rentner und Parteimitglieder gab, stellten das Auto vorsichtshalber in die Garage und stiegen auf die öffentliche Verkehrsmitteln um. Diese kamen zwar notorisch zu spät, aber über so eine Kleinigkeit regt sich in Russland wirklich keiner auf. Wichtig ist, das überhaupt noch etwas funktioniert. Die Wenigen, die nicht auf ihr Auto verzichten konnten, ließen den Motor ihrer Ladas und Schiguli über Nacht laufen, wenn sie am nächsten Morgen noch mobil und auf Rädern sein wollten. Wir Fußgänger bewegten uns ganz langsam und blieben auf der Hut. Meistens reichte das schon vollkommen aus, damit nichts Schlimmeres passiert.

Nichts destotrotz begegnete man dem Winter immer mit fröhlichem Herzen. Alle Russen lieben diese Jahreszeit. Fast jedes dritte Gedicht in der russischen Klassik ist dem Winter und Schnee gewidmet und wird dabei nur noch von dem Herbst übertroffen. Dieser wird nämlich in jedem zweiten Gedicht geehrt. Obwohl der Staat und Behörden kaum etwas gegen den Schnee unternahmen, gab es deswegen noch lange kein Chaos oder Ausnahmezustand. In unserem robusten Leben schien alles trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, immer noch zu funktionieren.

Gerade dieses Phänomen lässt mich im hochentwickelten Deutschland am meisten staunen. Obwohl es hier bei weitem nicht so viel Schnee wie in Russland gibt und man sonst immer bemüht ist, an alles Mögliche und Unmögliche zu denken, wird man jedes Jahr vom Winter „kalt erwischt“. Drei Flöckchen Schnee genügen und schon scheint nichts mehr zu funktionieren.

Ich persönlich rege mich nie über Schnee auf. Das wäre genauso sinnlos, wie sich darüber aufzuregen, dass es auf der Welt Sonne oder Mond, Tag oder Nacht, Hitze oder Frost gibt. Diese Dinge sind feste Bestandteile unseres Lebens. Sie und nicht wir, bestimmen den Ablauf des Universums. Und es gäbe nichts Traurigeres für mich, wenn unsere Welt eines Tages so weit käme, dass unsere Kinder den Winter nur aus den Bilderbüchern kennen würden. Ich heiße den Winter gerne willkommen und freue mich, dass die Natur sich nicht über den Knopfdruck und Wunsch der Menschen bedienen lässt. Stattdessen denke ich an das verschneite Deutschland und stelle mir das bayerische Märchenschloss Neuschwanstein im Winter vor, spaziere gedanklich über die weißen Hügeln und Tälern Sauerlands oder lasse mich von der geschmückten Straßen des Ruhrgebiets, wie damals, verzaubern und sage mir: Deutschland! Du bist wunderschön!

Dabei erinnere ich mich an andere Verse von Heinrich Heine. Verse, in den er den Winter ausnahmsweise etwas gemütlicher und kuscheliger beschreibt. Warme und schöne Verse.
  • Draußen ziehen weiße Flocken
    Durch die Nacht, der Sturm ist laut;
    Hier im Stübchen ist es trocken,
    Warm und einsam, stillvertraut.

    Sinnend sitz ich auf dem Sessel,
    An dem knisternden Kamin,
    Kochend summt der Wasserkessel
    Längst verklungene Melodien.

    Und ein Kätzchen sitzt daneben,
    Wärmt die Pfötchen an der Glut;
    Und die Flammen schweben, weben,
    Wundersam wird mir zu.
Welcher deutsche Dichter könnte noch so schön und so zärtlich über den Winter und Schnee in Deutschland schreiben? Mir fällt jedenfalls niemand ein. Im Übrigen, muss ich Sie jetzt kurz verlassen. Mein wachsamer Nachbar klopft an der Tür. Ich muss meiner Bürgerpflicht nachkommen und vor dem Haus fegen, damit nichts passiert. In der Zwischenzeit könnt ihr noch einmal das Gedicht lesen und über eine Frage nachdenken, auf die schon der große Dichter Heinrich Heine damals keine eindeutige Antwort fand: Ist Deutschland (k)ein Wintermärchen?"

15.12.2012-10.02.2013
Quellen: http://www.medienwerkstatt-online.de/lw ... hp?id=3844

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Weihnachten und Silvester stehen vor der Tür. Wir wünschen allen Lesern und Schreibern der GG ruhige und stressfreie Weihnachtstage!

Für das Neue Jahr 2014 wünschen wir Euch, dass noch mehr Wünsche erfüllt werden, als es in 2013 möglich war. Uns wünschen wir, dass die Gelsenkirchener Geschichten lebendiger denn je weiter machen und dass viele neue Impulse unser Forum noch interessanter und bunter machen.

Also: Auf ein neues, gemeinsames Jahr! :xmas_smilie:

Es grüßt euch eure Verwaltung,
Zuzu, Fuchs, Ego-Uecke, Troy, Benzin-Depot und Lupo Curtius.



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brucki
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Re: 6. Forumsrundbrief 2013 der Gelsenkirchener Geschichten

Beitrag von brucki »

Verwaltung hat geschrieben:Also: Auf ein neues, gemeinsames Jahr! :xmas_smilie:
Ich freu mich drauf! :D

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Duwstel
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Beitrag von Duwstel »

An die Verwaltung

für eure Arbeit :2thumbs: :respekt:

und für Alle!Bild
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TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

Theo ist mal wieder neugierig. Die Unterschriften der Verwaltungsmitglieder unter dem Forumsbrief stehen nicht in alphabetischer Reihenfolge. Stellt diese Reihenfolge ein Rangfolge dar?

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uwe1904
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Beitrag von uwe1904 »

Hallo Theo,

ich glaube(!), die Antwort liegt hier :wink: .

Wünsche gerne allen aktiven Usern, Lesern und dem gesamten Team friedliche und entspannte Feiertage.

Gruß
Uwe

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Benzin-Depot
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Beitrag von Benzin-Depot »

TheoLessnich hat geschrieben:Theo ist mal wieder neugierig. Die Unterschriften der Verwaltungsmitglieder unter dem Forumsbrief stehen nicht in alphabetischer Reihenfolge. Stellt diese Reihenfolge ein Rangfolge dar?
Im Prinzip ja, jedoch handelt es sich nicht um eine Reihenfolge, sondern um eine Aufzählung und die stellt keine Rangfolge dar, sondern bestimmt den Spüldienst bei unseren Verwaltungskochkursen. Aber der Rest stimmt. :P
„Die Menschen", sagte der Fuchs, „die haben Gewehre und schießen. Das ist sehr lästig.“
(Antoine de Saint-Exupéry / aus "Der kleine Prinz")

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Duwstel
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Beitrag von Duwstel »

Hey Benzi,
.....sondern bestimmt den Spüldienst bei unseren Verwaltungskochkursen. .....:lachtot:


da gibts noch keine Spülmaschine :ka:
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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Kein Geld dafuer!
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friedhelm
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Weihnachtsgrüße

Beitrag von friedhelm »

Bild

"Hör mal zu, wenn Du groß bist, darfst Du auch bei den Geslsenkirchener Geschichten mitarbeiten".

Frohes Fest und einen guten Rutsch ins neue Jahr an die Verwaltung (und allen anderen GGler) aus dem "Ausland" wünscht Friedhelm. Danke auch für die zahlreichen Genesungswünsche aus diesem Kreis.

TheoLessnich
Abgemeldet

Beitrag von TheoLessnich »

Danke Uwe 1904. Sorry, dass ich nicht selbst draufgekommen bin.

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uwe1904
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Beitrag von uwe1904 »

:wink:

@Meinrad: wenn auch spät, aber :danke: für deinen persönlichen Beitrag.

@all:
  • Bild
Gruß
Uwe

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Benzin-Depot
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Beitrag von Benzin-Depot »

Dankeschön Meinrad, für deinen erfrischend offenen geschrieben Beitrag mit dem Einblick in Dein Privatleben :winken:
„Die Menschen", sagte der Fuchs, „die haben Gewehre und schießen. Das ist sehr lästig.“
(Antoine de Saint-Exupéry / aus "Der kleine Prinz")

Pünktchen
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Beitrag von Pünktchen »

:2thumbs:
Ein sehr schön geschriebener Forumsbrief, der mich berührt und an meine Kindheit erinnert, in der es Schnee und Kälte, Schneeballschlachten und Kinderlachen, Schneemännerbauen und heißen Kakao gab. :snowman:
Die Winterzeit gehört zu meiner zweitschönsten Jahreszeit, der Herbst ist mir am liebsten.

@Meinrad,
deine Ehrlichkeit bewundere ich, weil wenige Menschen in meiner Umgebung ungern über ihr Leben reden, was ich auch toleriere.

@all,
Danke und macht weiter so.
Wenn du einen Menschen verstehen willst, dann höre nicht auf seine Worte, sondern beobachte sein Verhalten. -Albert Einstein-

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