Dr. Lutz Heidemann: Das Kaufhaus Sinn (Arbeitsversion)

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Verwaltung
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Beitrag von Verwaltung »

  • Die architekturgeschichtliche Rolle/ Bedeutung des Entwurfes von Bruno Paul –
    Reflexionen über das Gebäude:


    Die Architekturentwicklung in den 20er Jahren war außerordentlich schnell und radikal. Einen Vergleich mit dem Hans-Sachs-Haus bietet sich an. Stilgeschichtlich ist das Gelsenkirchener Kaufhaus Sinn schon ein Beispiel von „International Style“ nach der Definition des 1932 von Henri-Russel Hitchcock und Philip Johnson herausgebrachten Buches.

    Von zwei charakteristischen Elementen des Entwurfes von Bruno Paul ist die Einbindung in die Formenentwicklung besonders reizvoll/ ergiebig: Der Innenhof ist ein „Spätling“; ja man könnte angesichts der fast völlig verschwundenen Kaufhaus-Innenhöfe von einem Endtyp sprechen. In dem Gelsenkirchener Gebäude erfolgte durch Bruno Paul eine Neuinterpretation dieser Raumidee im Geist der radikalen Moderne. Das demonstriert der Vergleich mit den vor 1914 gebauten Kaufhäusern.
    Bild58. Der Lichthof im 1909/12 von Engler entworfenen Warenhaus Wronker in Frankfurt als Vergleich zum 15 Jahre jüngeren Kaufhaus Sinn (57)

    Die Renaissance dieser Bauidee setzte in den 1980er Jahren ein. Der Lichthof des 196x von G. Rietveld entworfenen Van Gogh-Museums in Amsterdam ähnelt in seiner Strenge und dem dominierendem Weiß sehr dem verschwundenen Gelsenkirchen Beispiel. Spektakuläre Impulse waren über viele Geschosse reichende Hotelhallen in den USA. Dann wurde bei Umnutzungen von historischen Großbauten des 19. Jahrhunderts die Überdachung von Innenhöfen zu einer gern gewählten Lösung: aus der Fülle der Beispiele seien der Hof des Museums für Kunsthandwerk in Hamburg, der Ausbau des Louvre durch Pei oder hier in der Nähe Schloß Horst genannt.

    Das zweite wirkungsmächtige Bau-Element ist die Fassade. Ihr charakteristische Gestaltungsmotiv der abgerundeten Ecke hat wahrscheinlich sein Vorbild bei Mendelsohn.
    Aufstockung des Verlagsgebäude Mosse in Berlin 1921-23 mit gerundeter Ecke. „Klarer dynamischer Willensausdruck“ lautet die Kurzcharakteristik bei Müller-Wulckow.

    Der Band über „Bauten der Arbeit und des Verkehrs aus der deutschen Gegenwart“ in der viel gelesenen Reihe der „Blauen Bücher“ erschien in der 1. Auflage 1925, in der 2. (21. bis 36. Tsd.) schon 1926. Da war das Kaufhaus Sinn noch gar nicht begonnen.

    blieb auch für Bruno Paul ziemlich singulär
    Thema Raumtragwerk und Haut
    Bruno Paul hatte vor 1918 Backstein u.a.
    Das Dischhaus in Köln wirkt konventioneller durch die Verwendung von Travertin.

    Bild59. Entwurfsskizze von Bruno Paul für das Dischhaus (58)
    Bild60. Das Dischhaus in Köln, Zustand um 1930 (59)

    unplastisch
    Glas als neuartiges Material, allgemeine Faszination
    Mies van der Rohe
    gebogen Glasscheiben
    Beispiel in GE: Resse, HSH
    quasi mit handwerklichen Mitteln die Möglichkeiten eines Industrieproduktes ausloten.

    Bauhaus-Architekten haben vergleichbare ästhetische, aber das Material nur wenig berücksichtigende Versuche bei moderner Architektur unternommen.

    Bruno Paul hatte eine gläserne Haut über das ganze Gebäude gezogen. Das wurde erst in den 1970er Jahren wieder zum Thema, nun mit veränderten technischen Mitteln, u.a. mit viel größeren Scheiben und dann mit einem von außen verspiegeltem Glastyp, daß man nicht mehr die Geschoßstruktur ablesen kann.

    Mendelsohn
    große Glasscheiben
    Pavillon Brüssel
    Gelsenwasser-Verwaltung

    Bruno Paul Kontakt zur Glasindustrie Dischhaus Travertin / Fassade HSH
    Bruno Paul hat diesen gestalterischen Strang nach 1945 nicht wieder aufgenommen

    Thema Fensterbänder: Beispiel Erich Mendelsohn (1887-1953)
    Kaufhaus Schocken in Stuttgart 1927 und Chemnitz 1928

    BildOberhausen, ehem. Kaufhaus Mensing, 19xx/xx

    Problem Außenhaut / ästhetisch und konstruktiv/ zu empfindliches Kleid
    BildStuttgart, Seidenstraße Bosch-Haus, jetzt Universitätsverwaltung

    Welches Marktsegment soll angesprochen werden: Wühltisch oder dauerhafte Eleganz?

    (57) Foto aus: Eberhard Grunsky „Otto Engler - Geschäfts- und Warenhausarchi-tektur 1904-1914“ Arbeitsheft 28 Landeskonservator Rheinland 1979 S. 36
    (58) Abb. aus: Ziffer (Hg.) S. 278

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Verwaltung
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Beitrag von Verwaltung »

  • Bild61. Das Firmen-Signet aus der Bauzeit
    Bild62. Postkarte mit Zustand von 1927; ist identisch mit Motiv 2, nur sind die Personen im Vordergrund hier wegretuschiert worden.
    Bild63. Detail der Eckgestaltung, ein weiteres Motiv aus der Architekturfoto-Serie von Werner Mantz (59)

    (59) Foto aus: Ziffer (Hg.) S. 313




    Literatur zum Kaufhaus Sinn in Gelsenkirchen:

    - Fuhrmann, Valentin: „Geschäftshaus Sinn Gelsenkirchen“ in Zeitschrift „Die Bauschau“ Jahrgang III, 1928 Heft 2: Auftragsbekanntgabe S.2; Aufsatz S. 9-17
    - Strauß-Ernst, Luise „Architektur im Westen“ in: Zeitschrift „Kunstblatt“ Jahrgang XII, Nov. 1928, S.323-330
    - Fuhrmann, Valentin in: Zeitschrift „Innendekoration“ XL von Jan. 1929 S. 41
    - Oelmann, Kaufhaus Sinn in Gelsenkirchen. in: Deutsche Bauhütte 33, 1929, S.156-157; 5 Abb.
    - Erwähnung mit Foto durch Hoff in: Zeitschrift „Baukunst und Werkform“ VII Heft 4 1954 Abb. S.185
    - Erwähnung in: Busch, Wilhelm „Bauten der 20er Jahre an Rhein und Ruhr“ Köln 1993

    generell zu Bruno Paul

    - Das Bruno Paul gewidmete Themenheft 10/82 der Zeitschrift „Stadt Monatshefte für Wohnungs- und Städtebau“ Herausgegeben vom Vorstand der Unternehmensgruppe Neue Heimat, Hamburg 1982;
    - Ziffer, Alfred (Hrsg.): Bruno Paul - Deutsche Raumkunst und Architektur zwischen Jugendstil und Moderne, Katalog zu einer Ausstellung des Stadtmuseums München, München 1992
    - Günther, Sonja: Monographie , hervorgegangen aus Dissertation

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Verwaltung
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Beitrag von Verwaltung »

Die Gelsenkirchener Geschichten bedanken sich bei Herr Dr. Heidemann für die Bereitstellung dieser umfangreichen und vielseitigen Arbeit zu einem spannenden Gebäude unserer Stadt.
Es ist, wie bereits gesagt, nur erst eine Arbeitsfassung, manches ist noch nicht komplett ausformuliert und die Fertigstellung hat sich aufgrund anderer Projekte verschoben. Jedoch ist bereits viel Recherche in die Arbeit geflossen und konnte so manches unbekannte Bild ans Licht gebracht werden. Umso mehr freut es uns, die Arbeit hier schon präsentieren zu können, anstatt sie noch lange in der Schublade liegen zu lassen.

Daaaaaaanke!

:gott: :rate10: :blue_el: :gold: :2thumbs:

AnnA
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Beitrag von AnnA »

Habe die Artikel mit Interesse gelesen. Es gab doch Verflechtungen, von denen man nichts geahnt hat. Danke für die umfangreiche Information.
Gruß AnnA

pito
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Beitrag von pito »

Angesichts der vielen historischen Bilder wird deutlich, wie enttäuschend die "Nachbildung" der Fassade in jüngerer Zeit doch ausgefallen ist. Vielleicht kann man das eines Tages mal richtig zuende bringen.

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Emscherbruch
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Beitrag von Emscherbruch »

pito hat geschrieben:Angesichts der vielen historischen Bilder wird deutlich, wie enttäuschend die "Nachbildung" der Fassade in jüngerer Zeit doch ausgefallen ist. Vielleicht kann man das eines Tages mal richtig zuende bringen.
Ich finde die Nachbildung nicht "enttäuschend". Die hässliche Blechfassade ist weg und der ursprüngliche Stil ist wieder zu erkennen. Angesichts anderer Baukatastrophen, die unsere Stadt schon erleben musste, bin ich für jeden Schritt in diese Richtung dankbar. Lieber ein kostenmäßig vertretbarer Rückbau, der im Detail Schwächen hat, als eine 100% Rekonstruktion, die wegen zu hoher Kosten erst gar nicht realisiert wird.

pito
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Beitrag von pito »

Emscherbruch hat geschrieben:Angesichts anderer Baukatastrophen, die unsere Stadt schon erleben musste, bin ich für jeden Schritt in diese Richtung dankbar.
:rock1green:

stapel
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Beitrag von stapel »

Auf jeden Fall. Aber besser hätte man es schon machen können.
Vielen Dank an Dr. Heidemann für diesen Aufsatz.

pito
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Beitrag von pito »

Heidemann hat geschrieben:Bild46. Diese undatierte Ansichtskarte aus der Zeit um 1930 zeigt, daß es in der Bahnhofstraße von andere so in den Straßenraum hineinreichende Werbungen gab.
Das Transparent rechts im Bild habe ich mal durch Auseinanderziehen sichtbar gemacht. Aber was bedeutet "Aussteuer-Tage"? Schlußverkauf?
Bild

fischfreak
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Aussteuertage

Beitrag von fischfreak »

Frauen brachten für gewöhnlich eine Aussteuer mit in die Ehe: Bettwäsche, Handtücher, Tischdecken und so weiter. Aussteuertage: Verkaufsaktion für diesen Bereich.

Heinz
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Beitrag von Heinz »

es gab auch den Brauch Pfennige für Brautschuhe zu sammeln und beim lokalen Schuhmacher des Vertrauens anzusparen. Ob der die eingeschmolzen hat, weil das Metall wertvoller als der Nennwert 1, 2 Pfennige war, weiß ich nicht mehr. :D

ausssteuer war in der Zeit, als man noch glaubte, dass Wäsche und Geschirr vererbt wird. Kurz bevor man mit Plastik-Löffeln im Mund geboren wurde. Mein erster Kinderteller war noch aus Blech mit Emaille - und einem Jungen mit Schürze auf nem Tretroller, der von einem hund gejadgt wurde.
Mein zweiter auf eigenen Wunsch aus rotem Plastik - wahrscheinlich meine erste Kauf-Fehlentscheidung. :D Aber der sah halt so aus wie diese chinesischen Teller. die auf Bambusstäben jongliert wurden. :oops:

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Emscherbruch
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Beitrag von Emscherbruch »

Heinz hat geschrieben: Mein erster Kinderteller war noch aus Blech mit Emaille - und einem Jungen mit Schürze auf nem Tretroller, der von einem hund gejadgt wurde.
Mein erster Kinderteller war aus dem gleichen Material und hatte eine Ente in der Mulde. Der Standardsatz meiner Mutter hieß: "Ess auf, bis die Ente Dich anlacht, sonst gibs schlechtet Wetta!"
Und wer hat heute nicht ausreichend zu Mittag gegessen? 8)

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ausdemhinterhof
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Aussteuer Tage

Beitrag von ausdemhinterhof »

Aussteuertage gab es eigentlich als Aktionen für Bettwäsche, Geschirr Besteck....
Diese Aussteuer wurde von der Frau mit in die Ehe gebracht um den neuen Hausstand zu begründen.
Da die wenigsten so reich waren Ihren Töchtern eine Mitgift zu spendieren, die den gleichen Zweck erfüllte, hatten Frauen Mitgifttruhen. (auf jeden Fall jede Magd)
In diese wurde über die Zeit die Aussteuer angesammelt und behütet. Frauen sammelten nach dem Mädchenalter bis hin zum Heiratsfähigenalter Ihre Aussteuer an.
Hatten Frauen nur wenig Aussteuer konnten Sie nicht oder nur sehr ärmlich untergebracht werden...
Heute kauft man alles auf Pump und zahlt bis ins hohe Alter Schulden ab.
So ändern sich die Zeiten

Glückauf
lebdamitsonstnix

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Tanja
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Re: Aussteuer Tage

Beitrag von Tanja »

ausdemhinterhof hat geschrieben: Heute kauft man alles auf Pump und zahlt bis ins hohe Alter Schulden ab.
So ändern sich die Zeiten
Aber nicht immer:

Meine Oma schenkte mir zur Konfirmation ein Besteck für zwölf Personen. Gewünscht hatte ich mir einen Atari.

Ihr könnt Euch bestimmt vorstellen, wie groß die Freude war... :wink:

Tanja

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Fuchs
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Beitrag von Fuchs »

Haste das Besteck denn noch?

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