Die Zeit 30.08.2007 hat geschrieben:Der Neue im Ruhrzoo
Frank Baranowski raucht nicht und trinkt nicht - anders als viele Sozis vor ihm in Gelsenkirchen. Dennoch regiert er die Stadt. Von Stefan Willeke
Früher ging man in Gelsenkirchen in den Zoo, wenn man sich etwas beweisen wollte — Nervenstärke, Abgebrühtheit, all diese Dinge, von denen man schon als Kind annahm, dass sie im Leben einmal wichtig würden. Früher drehte sich ein Elefant in einer grauenvoll kleinen Betonmanege, in den Wasserpfützen entzündeten sich seine Füße. Früher wurde dem Tiger von anderen Raubkatzen der Schwanz abgebissen, weil die Käfige so eng waren, dass der Schwanz des Tigers in die Nachbarzelle ragte. Früher verbogen Schimpansen ihre Gitterstäbe, weil sie sich aus ihrem gekachelten Gefängnis befreien wollten. Früher kämpfte man mit den Tränen, wenn man in Gelsenkirchen in den Zoo ging.
Frank Baranowski warf einen vertrockneten Klumpen Brot in das aufgerissene Maul eines Nilpferdes, damals, als Junge, Anfang der siebziger Jahre. Erleichtert wandte er sich ab, als sich das finstere Loch schmatzend schloss. Eine kleine Mutprobe war das für ihn, auch, weil er sich vor großen Tieren fürchtete. Immer wieder ging der Junge in den scheußlichen Tierpark, zusammen mit seiner kleinen Schwester, der Mutter, den Großeltern. Sie nahmen Frikadellen und Kartoffelsalat mit, setzten sich mittags zum Picknick ins Gras. »Wie soll ich das beschreiben?«, fragt Frank Baranowski, »da war kein Ekel, nein, eher Mitleid.« Das hatte wohl etwas mit Gelsenkirchen zu tun, dieser geschundenen Stadt, die er als Erwachsener einmal regieren würde. Im Zoo litten die Menschen, weil die Tiere litten, aber weil die Tiere stärker litten, hatte das für die Menschen auch etwas Tröstliches.
Kein Politiker machte sich etwas aus einem Zoo.
Früher.
Heute lässt sich der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen im Gelsenkirchener Zoo fotografieren. Auch Frank Baranowski, der 45-jährige Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, ist öfter da. Der alte Zoo wurde abgerissen, es wurde erneuert, erweitert, befreit. Der neue Zoo besteht aus Glasfronten, Events und künstlichen Bächen, die in Erlebniswelten zerfließen. Marketing-Menschen haben das Wort »Ruhr-Zoo« durch »ZOOM Erlebniswelt« ersetzt. Man kann sich verirren vor lauter Moderne. Einen Zoodirektor gibt es auch nicht mehr, seit der Tierpark einer Firma gehört, die ansonsten Strom verkauft. Der Aufstand gegen das Früher hat im Zoo von Gelsenkirchen angefangen und endet bei Frank Baranowski von der SPD.
»Für Elendsberichterstattung stehe ich nicht zur Verfügung«
Wie leise er spricht. Wie korrekt er sich ausdrückt. Ein drahtiger Mann sitzt unter einem Strohdach in der Afrika-Lodge des Zoos, der Regen rinnt in die Grassavanne, in der Ferne kreischen Paviane. Hört man dem Bürgermeister zu, klingt alles wohl überlegt, ganz mühelos. Es klingt, als sei es einfach, sich gegen Flusspferde durchzusetzen.
Früher waren Sozialdemokraten im Ruhrgebiet wie Flusspferde, schwer und rund und sagenhaft dickhäutig. Glucksend stampften sie durch plüschige Ratskeller, üppige Mehrheiten machten sie satter und satter - bis zum 26. September 1999, jenem Sonntag, den sie »das Erdbeben« nennen. Das erste Mal wurde ein CDU-Kandidat zum Oberbürgermeister in Gelsenkirchen gewählt. »Das war kein Unfall«, sagt Baranowski, »daraus haben wir lernen müssen.« Die Lehre daraus ist Frank Baranowski, der Gelsenkirchen vor drei Jahren zurückeroberte, der Junge, den man in der SPD lange Zeit unterschätzt hatte. Der ist zu still. Der macht keine Überschriften für seine Politik. Der packt es nicht.
So redeten die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück und Wolfgang Clement über ihn, aös Baranowski noch Abgeordneter im Landtag war.
Sie haben zuerst nicht verstanden, dass, Höflichkeit eine Waffe sein kann.
Als Baranowski es vor Jahren wagte, seinen Anführer Clement vor der SPD-Fraktion im Landtag zu kritisieren, sprach er von den vielen »Entlein«, die Clement auf einen Teich gesetzt habe. Aber nie habe sich Clement dafür interessiert, wie lange die Entlein schwimmen konnten, was aus den Projekten, die er angestoßen hatte, wurde.
Baranowski lächelte freundlich, als Clements rechte Hand schon unkontrolliert zu schlackern begann. Dann fuhr der bebende Groll in Clements Oberkörper und schüttelte den ganzen Mann auf seinem Sitz wie in einem Autoscooter. Je länger ihn der junge Kritiker mit dem neugierigen Blick eines Anthropologen musterte, desto stärker taumelte Clement in seinem Wuttanz. Als Clement schließlich losbrüllte, blieb Baranowskis Gesicht noch immer ungerührt. »Frank Baranowski trägt eine schusssichere Weste«, sagt Britta Altenkamp aus dem nordrhein-westfälischen SPD-Vorstand.
Begleitet man den Bürgermeister, wundert man sich abends über die vielen leeren Seiten im Notizblock. Minutenlang kann er schweigend neben einem im Auto sitzen, weil er glaubt, alles Wesentliche sei gesagt. Das Wesentliche ist: Der Stadt geht es nicht gut, man sieht es auch an den Fenstern. Nimmt jemand die Gardinen ab, ist wieder eine Wohnung leer. Gelsenkirchen hat in den vergangenen 40 Jahren fast 130 000 Einwohner verloren. Nothaushalt: Jede neue Schaukel auf einem städtischen Spielplatz muss vom Regierungspräsidenten genehmigt werden. Sogar das Rathaus ist eine Notunterkunft, weil das richtige Rathaus saniert werden muss. Türkische Ghettos. Russische Ghettos. Schalke 04.
Ruft ein Fernsehsender an, weil er Bilder von Hartz-IV-Gebieten und einen O-Ton des Bürgermeisters braucht, verweigert sich Baranowski. »Ich stehe für Elendsberichterstattung nicht zur Verfügung.« Lieber spricht er vom Zoo. Schon eine Million Besucher. »Man weiß gar nicht mehr, wer mehr Leute in die Stadt lockt, der Zoo oder Schalke 04.« Der Zoo ist jetzt auch ein Versprechen. Die Stadt leert sich, die Behörden reden pausenlos vom »Rückbau«. Hochhäuser werden in der Mitte durchgeschnitten. Nur der Zoo macht sich breit. »Schauen Sie«, sagt Baranowski vor einer Scheibe im Zoo, »die Löwen hier.« Sie dösen auf beheizten Felsplatten. So schön, wie es die Tiere haben, soll es auch für die Menschen sein, in zehn Jahren, in hundert, irgendwann. »Gelsenkirchen ist keine Stadt für Ungeduldige«, meint der Bürgermeister. Nur im Zoo wird weiter gebaut und nicht zurückgebaut. Baranowski sagt: »Bald ist auch Asien fertig.« Dann dürfen die Orang-Utans kommen.
Für Kinder setzt der Bürgermeister sich ein, für Familien. Bringt eine junge Frau ein Baby zur Welt, kommen Leute vom Jugendamt bei ihr zu Hause vorbei und sehen nach dem Rechten. Einige Kindergärten öffnen jetzt morgens um sechs und schließen erst abends um acht. Als die CDU-geführte Landesregierung höhere Kindergartenbeiträge verlangte, weigerte sich Baranowski, den Erlass durchzusetzen. Man musste ihn dazu zwingen.
Frank Baranowski hält an den hohen Zuschüssen für das Theater fest, 13 Millionen Euro jedes Jahr. Sie sollen hierbleiben, die Lehrer, Ärzte, Ingenieure. Die Mittelschicht soll nicht fliehen. Deswegen bietet er jungen Familien Häuser billig zum Kauf an. Deswegen sollen an einem Waldesrand Baugrundstücke für »die Vermögenden« entstehen. Unternehmer, die eine Wohnung suchen, lässt der Bürgermeister zu den schönsten Villen fahren. »Hier kann man leben«, sagt er ihnen und schenkt ihnen Karten für den Zoo. Manchmal zeige sich der Kodiakbär stundenlang nicht. »Schon spannend, oder?«
Im Mai lief der OB einen Halbmarathon. Zwischendurch gab er ein Interview
Früher starrten tausend Augenpaare jeden Besucher an, Mähnenwölfe, Zebras, Meerespelikane, alle glotzten herüber. Die Tiere gehörten einem internationalen Händler, der im Zoo ausstellte, was er nicht gleich verkaufen konnte. Ein paar Ladenhüter haben bis heute überlebt. Baranowski hat eine Patenschaft für Martha-Rosl übernommen, ein altersschwaches Nilpferdweibchen, dem er einmal eine Antibabypille in den Rachen werfen musste, eine Pille, groß wie ein Brikett. Wie er davon erzählt, sah es wohl ein bisschen lächerlich aus.
Baranowski achtet immer darauf, wie etwas aussieht. Seine Anzüge sind schlank geschnitten, und vor drei Jahren, im Wahlkampf gegen den damaligen CDU-Bürgermeister, prüfte er sogar die Dekoration auf den SPD-Tischen. »Die Frauen schwärmen für ihn«, sagt ein Parteifreund, »egal, ob linksradikal oder bürgerlich, sie schwärmen.«
Baranowski fährt in die Nachbarstadt Essen, wenn er ins Fitnessstudio möchte, weil er nicht schwitzend vor seinen Wählern stehen will. Er hatte hart trainiert, bevor er im Mai an seinem ersten Halbmarathon teilnahm. Auf keinen Fall wollte er erschöpft wirken, wenn er auf das Ziel zulief. Plaudernd näherte er sich schließlich Gelsenkirchen und gab dem WDR zwischendurch ein Interview.
Baranowski hat eine feste Freundin, keine Kinder. Er hat schon mal die Alpen mit einem Fahrrad überquert. Er raucht nicht, und wenn man ihn nach durchzechten Nächten mit Genossen fragt, schüttelt er sich und antwortet: »Nein, da denke ich sofort an die Kopfschmerzen.«
Rudi Assauer wollte ihm helfen. Baranowski dankte - und lehnte ab
Früher, als noch die Flusspferde in den Rathäusern zu bestimmen hatten, war Politik meist eine Verbindung zwischen zwei Trinkgefäßen. Aus der »Kaffeeklappe«, einem Cafe im Düsseldorfer Landtag, schwankten Minister nachts mit campariroten Köpfen in die Tiefgarage, im Essener Ratssaal wurden Williamsbirnen ausgeschenkt, und im Recklinghäuser Kreishaus richtete der Oberkreisdirektor einen Weinkeller ein. Der frühere Kreisdirektor ist heute Konsolidierungsberater in Marl. »Die SPD hat hier Typen hervorgebracht, die ihre politische Bühne auf Volksfesten gefunden haben. Da ist Frank Baranowski total anders«, sagt die Sozialdemokratin Altenkamp.
Dem Bürgermeister Baranowski hat Rudi Assauer, der frühere Manager des Fußballvereins Schalke 04, nie das Du angeboten, und das hat etwas zu bedeuten. Wäre Assauer ein Zootier, wüsste man gar nicht, wo man ihn hinstecken sollte, jedenfalls nicht zu den Pflanzenfressern. Assauer war es immer egal, wer unter ihm Politik machte. Der einzige Meister, der ihn interessierte, war der deutsche Fußballmeister.
»Da kommt ja unser Bürgermeisterlein«, frotzelte Assauer einmal über Baranowskis Vorgänger, den CDU-Bürgermeister Oliver Wittke. »Du, Olli«, sagte Assauer einmal, »ich mag dich nicht.« Daraufhin tat der CDU-Mann alles, um Assauer zu gefallen. Sogar einen Balkon ließ er nach einem Fußballpokalsieg über Nacht an das traurige Rathaus mauern, damit der Jubel, den Schalke-Manager Assauer dort empfing, herüberschwappte auf den Christdemokraten.
Eigentlich wäre es an Frank Baranowski gewesen, sich mit dem Fußball zu verbrüdern, von einem Sozialdemokraten hätte man das erwartet. Nichts lieben die Menschen an Gelsenkirchen mehr als den FC Schalke, aber Baranowski überließ dem politischen Gegner einen Platz in Assauers Schatten, und der Fußballmanager unterschrieb einen öffentlichen Wahlaufruf für den CDU-Kandidaten. Als aber Baranowski so viele Wählerstimmen holte, dass er eine Stichwahl erzwang, rief Assauer persönlich an und fragte den Sozialdemokraten, ob er Hilfe wolle. Natürlich war das keine Frage, sondern ein Gnadenakt. Baranowski vergaß nicht, sich zu bedanken, bevor er das Angebot ablehnte.