Roman Dell

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Und hier im März kommt die Fortsetzung:

Eines hat mich das Leben doch gelehrt. Man kann einem Menschen nur vor den Kopf sehen. Niemand weißt was in seinem Inneren passiert. So war es auch mit unserem Toljan. Obwohl der Busfahrer nach Außen den „starken Kerl“ spielte, ließ der Tod seiner Frau gewaltige Leere und Schmerz in ihm zurück. Leere und Schmerz, die er zu betäuben versuchte. Und zwar genau auf die Art, wie dies ein russischer Mann meistens tut…

Von jenem Tag an verfiel Toljan unbemerkt der gemeinen Macht des Flaschengeistes und fing an heftig zu trinken, was in der russischen Sprache am besten das Wort buhat zum Ausdruck bringt. Zunächst am Wochenende, dann nach dem Feierabend und später auch während der Dienstzeiten.

Niemand maß dem eine besondere Bedeutung bei. Auch hielt man ihn deshalb keineswegs für gefährdet oder gar für einen Alkoholiker. Trinken ist in Russland nun wirklich nichts Besonderes, jeder macht das und das Saufen im Dienst gehört dazu. Darin unterschied sich Toljan kaum von den anderen Männern. Wir blieben unbekümmert. Es gab keinen Grund zur Sorge. Niemand ahnte, dass bald etwas Böses geschehen würde…
Erst als wir eines Morgens völlig fremde Menschen aus seiner Wohnung rausgehen sahen, erinnerten wir uns plötzlich an den verwitweten Busfahrer und fragten uns erstaunt, ob mit Toljan etwas passiert sei.

Vom dem Fahrer selbst fehlte jede Spur. Auch seine Stieftochter und sein Sohn waren ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt. In seiner Wohnung lebte jetzt eine mehrköpfige russische Arztfamilie, die vor dem auflodernden Bürgerkrieg in Tadschikistan im letzten Moment geflohen war, weil sie dort nach dem Zerfall der Union ständig von den Einheimischen bedroht, diskriminiert und vertrieben worden war. Kein Einzelfall, sondern alltägliche Sache in dieser schweren Zeit.

Was aus dem alten Vormieter geworden ist, wussten und konnten die neuen Bewohner uns nicht sagen. Nur dass sie die Wohnung bei einem Immobilienmakler aus Rostov gekauft hatten. Mit Siegel und Vertrag. Alles legal und offiziell, behaupteten sie.
Ein paar Tage später erfuhren wir, was wirklich geschehen war. Eine hausbekannte Klatschtante sorgte endlich für Wahrheit und Klarheit. Sie erzählte uns, dass der Busfahrer Opfer der organisierten Kriminalität geworden war. Das Wort Mafia trauten wir uns noch nicht in den Mund zu nehmen. So etwas Böses existierte in unseren Köpfen nur im kapitalistischen Westen. Wie naiv war der sowjetischer Mensch!

Dabei fing diese Geschichte für Toljan zunächst ziemlich gut an.
Sein Chef rief ihn am Freitag zu Hause an und bat ihn, am Wochenende wieder einen kleinen „Job“ für ihn zu erledigen. Sein Lieblingsneffe heiratete an diesem Samstag und Toljan sollte wie immer die betrunkene Hochzeitsgesellschaft überall hinfahren. Keine große Sache. Alles wie sonst. Plus hundert Greenbacks als Tagesgage. Wieviel das genau in Rubel ist, wußte er nicht. Die Scheißinflation änderte den Währungskurs sowieso fast stündlich.

Der Busfahrer machte seinen Job. Der Termin beim Standesamt, die anschließende Stadtrundfahrt, Kranzniederlegung am Kriegerdenkmal und traditioneller Besuch im Restaurant. Ein Standardprogramm bei jedem Brautpaar.

Erst gegen Mitternacht kehrte Toljan nach Hause zurück. Müde und hungrig aber mit den versprochenen hundert Dollar in der Tasche. Doch an diesem Tag machte ihm das Geld keine Freude. Die Wohnung war leer. Saschka schlief am Wochenende bei der Großmutter und seine Stieftochter war irgendwo mit ihrem Verlobten unterwegs. Niemand wartete auf ihn.
Er betrachtete das kalte Wohnzimmer, das jetzt einsam im Mondlicht lag. Dabei fiel sein Blick natürlich auf das schwarzweiße Portrait seiner Frau an der Wand. Ein Bild, auf dem sie noch jung, schön und schlank war. Ein Bild aus der Zeit, die er rückwirkend für sich als die glücklichste in seinem Leben betrachtete.

Er ging in die Küche und machte nachdenklich den Kühlschrank auf.
Sein gedämpftes Licht und sein halbleerer Innenraum strahlten etwas Trauriges aus. Sie erinnerten ihn an einen verlassenen Leuchtturm. Ein Geisterschloss ohne Freude und ohne Leben, mitten in einem stockfinsteren Meer, das ihm bis zum Hals stand.
Er hasste diesen Kühlschrank, in dem jetzt seit über einem Jahr keine hausgemachten Frikadellen oder andere kulinarische Kreationen seiner verstorbenen Gattin mehr lagen, sondern nur Wodka, Gurkengläser oder Büchsenfleisch aus dem örtlichen Univermag – einem russischen Discountladen - gab. Das Essen eines Vagabunden und das traurige Symbol seines neuen Witwerlebens.

All das war nicht sein Leben. Das Leben von früher. Das gute Leben, das mit ihrem Tod in Nullkommanichts verschwunden war. Diese sterile Totenstille im Raum, die Unfähigkeit etwas daran zu ändern, alles wieder gut zu machen, setzte Toljan am meisten zu. Welcher Irre hatte gesagt, der Mensch sei seines eigenen Glücks Schmied. Alles gelogen! Er konnte sein Unglück doch nicht verhindern!

Diese Witwer-Wohnung machte ihn wütend und depressiv. Auch jetzt.
Er fühlte, wie der gemeine Schmerz leise zurückkehrte und griff entschlossen nach einer Flasche Stolyznaja im Fach. Natürlich blieb es nicht nur bei einem Schluck. Er trank gleich mehrere Gläser hintereinander…

Während die Schlafmüdigkeit sich langsam in seinem Körper verbreitete, hörte er plötzlich das Telefon im Schlafzimmer, das jetzt schrill und bedrohlich zu klingen begann. Einmal. Zweimal….
Beim fünften Mal nahm er endlich ab. Es war sein Vorgesetzter, der ihn wütend anbrüllte. – „Bist du nicht mehr bei Sinnen, Toljan? Du, Scheißkerl! Wie konntest du nur den Vater der Braut vergessen haben? Er lag eine Stunde lang unter dem Tisch im Restaurant, wo du ihn vergessen hast! Fahr los und hole ihn zurück!“
Normalerweise wäre das auch keine große Sache, hätte Toljan nicht schon ein paar Gläser Wodka im Blut gehabt. Was er dem Chef auch ehrlich sagte: „Entschuldige, Natschalnik. Habe ihn irgendwie nicht gemerkt. Er war nicht der Einzige, der dort betrunken unter dem Tisch schlief. Sei mir nicht böse, Chef, aber das geht jetzt wirklich nicht! Ich habe schon eine Viertelflasche Wodka in mir drin. Mir wurde gesagt, für heute ist Schluss. Jemand anderes muss ihn nach Hause fahren“. Aber der Chef wollte nichts davon wissen.- „Rede kein Scheiß, Toljan! Was bildest du dir ein, mit wem du da sprichst? Du machst das! Punkt!“- schrie er weiterhin zornig in den Hörer. – Alle anderen sind schon weg. Du bist der einzige, der diesen verdammten Bus fahren kann. Und tu nicht so, als würdest du zum ersten Mal betrunken am Steuer sitzen. Hab dich schließlich oft genug gedeckt. Das wird schon klappen. War ja sonst immer kein Problem. Andernfalls, kommst du morgen zu mir…deine Kündigung abholen“- und er knallte den Hörer auf die Gabel.
Er war außer sich und Toljan tat das, was er immer tat… Er gehorchte.

[center]XXX[/center]

Unterwegs geschah mit Toljan das große Unglück. Auf der Straße (es war Anfang Februar und noch viel Glatteis) kam sein Bus plötzlich ins Schleudern und rammte einen schwarzen Mercedes, der ihm auf der Landstraße entgegenfuhr. Der Busfahrer trat voll auf die Bremse, aber es war zu spät. Der Zusammenstoß ließ sich nicht mehr vermeiden. Er spürte die ganze Kraft des Aufpralls…

Sein Bus kam von der Straße ab und fuhr direkt in ein Privathaus rein. Die Wand stürzte ein. Eine ältere Frau im Bademantel vor dem Fernseher schrie…
Dem Mercedes erging es nicht besser. Der Wagen drehte sich ein paar Mal im Kreis, bis er ebenfalls von der Fahrbahn abkam, gegen eine Laterne am Rand krachte und danach auch stehen blieb. Seine Vorderseite war vollkommen zerstört.

Als ob das allein nicht genug Mist wäre, erwiesen sich die Fahrgäste in der verdunkelten Limousine als Mitglieder einer berüchtigten tschetschenischen Gang, die in Rostov und Umgebung ihre Geschäfte machten. Sie fackelten nicht lange.

Die Männer sprangen flink aus dem Wagen und prügelten auf den Fahrer wild ein. Ihre Wut kannte keine Grenzen. Ein gebrauchter Mercedes-120 war im postsowjetischen Russland immer noch sehr teuer und eine absolut exotische Erscheinung unter den vielen Ladas, Schiguli oder Wolgas auf den russischen Straßen. Eine Autoversicherung gab’s zwar schon, aber sie war keine Pflicht. Jeder musste in der Regel selbst für die Kosten aufkommen. Toljan ahnte nicht einmal, wieviel so ein ausländischer Wagen ihn kosten würde. Außerdem wusste er nicht, wo sie die entsprechenden Ersatzteile dafür herkriegen sollten. Der eiserne Vorhang war erst vor Kurzem gefallen und die ausländischen Produkte waren immer noch selten und teuer. Besonders ausländische Autoersatzteile. Besonders die aus Deutschland. Selbst die russischen Ersatzteile waren viel zu teuer und nur sehr schwer zu bekommen. Er hatte tatsächlich ein Problem. Man ließ ihm keine Zeit sich etwas einfallen zu lassen oder etwas zu sagen.
Die Gangster nahmen ihm den Pass und den Führerschein ab und schleppten den verwirrten Fahrer in seine Wohnung. Dort schlugen sie erneut auf ihn ein. Wieder und wieder. Sie prügelten ihm die Seele aus dem Leib. Nebenbei forderten sie noch 70 000 Dollar für Reparatur und Entschädigung von ihm. Ein richtiges Vermögen, sowohl damals als auch heute.
Da blieb Toljan nichts Anderes übrig, als seinen Boss zu Hause anzurufen. Er gestand ihm alles, was passiert war und bat den Chef darum, ihm 70 000 Dollar zu leihen, damit er die Sache mit den Tschetschenen „regeln“ konnte. Aber sein Boss war geizig und feige. Er hielt sich aus allem raus.

- Das ist nicht mein Problem, Toljan! Sollst du besser aufpassen. Bin ich schuld, dass du trinkst? Ruf mich nie wieder an. Du bist gefeuert. Und für den Bus schuldest du mir übrigens auch noch Geld!“, lautete seine Antwort.

Es war nicht gut. Überhaupt nicht gut für ihn. Inzwischen ließen die Gangster bei Toljan den berüchtigten „Zähler“ laufen. Sie gaben dem Busfahrer drei Tage Frist. Die Zeit, um sich das nötige Bargeld für die Reparatur und die Entschädigung zu besorgen. Sonst würde er die „Konsequenzen“ tragen. Dann verließen sie fluchend seine Wohnung…

Fortsetzung folgt...
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Und hier der Schluß:

Toljan wusste sehr wohl, dass er das Geld für die Tschetschenen nicht auftreiben konnte. Niemals. Kein Normalo hier in der Stadt hätte so viel Geld. Auch durfte der Busfahrer auf keinen Fall zur Miliz gehen und sich dort stellen. Sie würden ihm nicht helfen können und würden ihn höchstens nur sofort einbuchten, weil diese Lösung für die korrupten Bullen am einfachsten wäre. Wer würde sich schon freiwillig und bei solch mickriger Bezahlung für ihn mit den reichen und schlagkräftigen Tschetschenen anlegen wollen und einen Riesenärger und seine Gesundheit riskieren? Und wer würde für seine Familie sorgen, wenn er wirklich im Knast säße? Wer würde sie vor der Rache der Kaukasier schützen, die seine Nächsten für Toljans Fehler bestrafen würden? Nein, die Bullen wären wirklich keine gute Option. Für sie war der Busfahrer nur ein willkommenes Bauernopfer. Jemand, mit dem man die Erfolgsquote nach oben korrigiert und die Beförderung kassiert, während die wahren Verbrecher unbestraft bleiben.

Stattdessen hatte Toljan eine ganz andere Idee. Der Busfahrer holte sein altes Jagdgewehr aus dem Schrank und beichtete seiner Stieftochter den Vorfall. Er bat sie auch,“ für alle Fälle“, mit seinem Sohn eine Weile bei ihrer Großmutter zu übernachten und trank sich erstmal Mut an. Als die drei Tage verstrichen waren, bekam er wieder Besuch…

Er hatte vor, für seine Familie zu kämpfen, aber in dem Moment, als sie seine Wohnungstür gewaltsam eintraten, verließ Toljan erneut der Mut. Also prügelten sie wieder auf ihn ein. Dieses Mal noch brutaler, noch heftiger, noch härter als sonst. Sie meinten es ernst. Die Tschetschenen ketteten ihn mit Handschellen an einem Heizkörper an und schlugen ihn ununterbrochen. Ihre Schläger und Knochenbrecher wechselten sich die ganze Nacht ab.
Beim Morgengrauen hatte Toljan keine Zähne… und auch keine Wohnung mehr. Seine Rippen waren gebrochen und sein Gesicht geschwollen und rot. Er überließ seine privatisierte 3,5-Zimmerwohnung mit Loggia, Garage und Balkon im Tausch für seine Freiheit und sein Leben. Das dürfte die Unkosten für den Mercedes und den moralischen Schaden in etwa decken, meinten grinsend die Kaukasier. Was blieb dem armen Teufel auch sonst übrig.
Noch in derselben Woche wurde die Wohnung weiterverkauft. Der Rest der Geschichte war uns inzwischen schon bekannt. Nun wohnten unsere Russen aus Tadschikistan hier. Über Toljan selbst wusste man so gut wie nichts. Es gab nur wilde Gerüchte. Nichts als Gerüchte.

Die einen besagten, dass er spurlos verschwunden sei. Wohl aus Angst vor der Miliz oder vor den Schlägen der Tschetschenen. Die Anderen schworen bei ihrer Mutter und bei Gott, dass Toljan am Leben, aber dafür völlig im Auspuff sei. Angeblich sollte er jetzt bei seiner eigenen Mutter wohnen, die ihn mit ihrer mageren Rente unterstützt und hilft. Aber arbeiten soll der armer Kerl immer noch nicht. Kann er gar nicht. Stattdessen sitzt er geistesabwesend vor der Glotze und zuckt jedes Mal ängstlich zusammen, wenn an der Tür geklopft oder geklingelt wird. Jetzt hat er wirklich alles, ALLES, verloren.

Das war tatsächlich nicht gelogen. Er hatte nichts und niemanden mehr, außer seiner alten Mutter. Seine Familie war, genau wie seine Wohnung, weg. Die Stieftochter wollte nichts mehr von ihm wissen. Sie konnte und wollte dem Busfahrer nicht verzeihen, dass er sie und ihren Halbbruder - seinen einzigen Sohn - über Nacht zu Obdachlosen gemacht hatte.

Das Mädchen hatte Saschka mitgenommen und war bei ihrem Freund eingezogen, den sie später heiratete. Man munkelte, dass er ein sowjetischer Jude sei und seine Familie kurz vor der Auswanderung nach Amerika stehe. Keine schlechte Option, weder für sie noch für den Knirps, verglichen mit unserem eigenen Hundeleben und unserer Zukunft hier.
Jedenfalls konnte und durfte der Busfahrer seinen Sohn vorerst nicht sehen.

Die Frau, in deren Wohnung Toljan mit seinem Bus direkt reingefahren war, war nach dem Unfall schwer traumatisiert. Man sagte, dass sie jetzt in einem Altersheim am Rande der Stadt lebte, weil ihr eigenes Haus vom Absturz bedroht war. Sie hatte keine Verwandten mehr, die ihr bei dem Wiederaufbau des Hauses helfen konnten. Auch ihre Zukunft war dahin.
Ob der Busfahrer ihr den Schaden je zurückgezahlt hat, konnte ich weder damals noch später in Erfahrung bringen. Auch nicht, was aus Toljan geworden ist. Kurz danach ging meine Familie nach Deutschland und ich vergaß diese Geschichte, wie man einen bösen Traum vergisst…

[center]XXX[/center]

Nach dem Vorfall mit Toljan stand unser Haus noch wochenlang unter Schock. Die brutale Misshandlung des Busfahrers und seine anschließende Vertreibung aus der eigenen Wohnung, ließen niemanden in der Siedlung gleichgültig. Jeder war entsetzt über die Härte und die Folter der tschetschenischen Mafia und zeigte sich mit dem Opfer mitfühlend und solidarisch, auch wenn der Witwer gewiss eine Mitschuld an dem Ganzen trug.

Wir konnten einfach nicht glauben, dass so etwas Grausames und Unmenschliches wie dieser Überfall, eine Tat, die wir bis dahin nur aus amerikanischen Actionfilmen kannten, die bei uns in den halblegalen Videosalons abends liefen, doch so leicht und so schnell auch bei uns geschehen konnte. In unserem Alltag. In unserem Staat. In einem Arbeiter- und Bauernstaat, der noch gestern von den hohen moralischen Werten und Idealen des Sozialismus geprägt war und jetzt scheinbar widerstandlos und stillschweigend die Willkür und die Gesetzte einer Dschungelwelt akzeptierte.

Unser Weltbild war zerstört. Gleichzeitig machten sich Angst und Unsicherheit in uns breit. Nicht grundlos. Es brach tatsächlich eine schwere und gefährliche Zeit an. Menschen verschwanden am helllichten Tag und wurden nie wiedergesehen oder gefunden. Manchmal fand man die eine oder andere Leiche im Fluss versenkt, oder auch im Asphalt oder Beton einer Straße oder eines Hauses eingemauert. Sie wurden Opfer von Hunger, Raub, Erpressung oder Gewalt. Niemand suchte nach ihnen. Niemand interessierte sich für sie. Jeder dachte an seinen eigenen Vorteil.

Die Politiker kämpften um Parlamentssitze und Ministersessel. Die Geschäftsleute und die Kriminellen teilten das Land und seine Reichtümer unter sich auf. Die Polizei kassierte von allen Seiten Schmiergeld und drückte beide Augen zu. Und wir - das Volk -, wir wurden verraten und vergessen.

Im Grunde war jeder von uns Freiwild, das jetzt nur der Gnade des Schicksals ausgeliefert und seinem eigenen Überlebensinstinkt überlassen war. Es hätte wirklich jede, jede Familie im Land treffen können, wenn man einfach nur das Pech gehabt hätte (durch Zufall oder eben selbstverschuldet) ins Visier der organisierten Kriminalität zu geraten. Deshalb war der Angriff auf den Busfahrer, indirekt, ein Angriff auf jeden von uns: auf gutmütige und leichtgläubige Sowjetbürger, die im Geiste der sozialistischen Brüderlichkeit und Solidarität und des Internationalismus erzogen waren und sich in der Person von Toljan kollektiv gekränkt, misshandelt und beraubt fühlten. In ihrem eigenen Haus, am helllichten Tag.

Dass die Gangster ausgerechnet aus der unruhigen Region Kaukasus stammten, wo die Regierung Jelzins gerade militärisch „konstitutionelle Ordnung“ wiederherstellen ließ und dabei zahlreiche Verluste zu verzeichnen hatte, ließ dieses (im Grunde schon bald alltägliche) Verbrechen in unseren Augen wie eine weitere, bittere Niederlage und Demütigung Russlands aussehen und hat unseren patriotischen Stolz und unsere Gemüter zutiefst verletzt. Man nahm das Ganze plötzlich sehr ernst und sehr persönlich.

Unter den Bewohnern unserer Stadt, die gegenüber den Südländern traditionell sehr aufgeschlossen und tolerant waren (schon deshalb, weil unsere ganze Region zwischen der Ukraine und dem Nordkaukasus liegt), machte sich über Nacht chauvinistische Stimmung breit.

- „Was macht es nur für einen Sinn woanders für Recht und Ordnung zu sorgen, wenn man im eigenen Hause nicht mehr sicher ist - machten die Frauen ihrem Unmut laut Platz.- Wohin guckt der verdammte Staat? Was macht die Miliz? Wir sind schutzlos! Jeder Bandit macht, was er will. Dieser Trinker Jelzin lässt unsere Söhne wie Vieh in den Bergen sterben, während „die da“ hier das Sagen haben! Sollen sie doch ihre Unabhängigkeit haben und uns gefälligst in Ruhe lassen. Wir wollen diese Kreaturen nicht bei uns.“

Ihnen folgten die leisen Rufe der eingeschüchterten Männer, die mit bedrückten Mienen Ähnliches sagten „Ganz recht, Weiber! Wir haben mit denen gedient. Das sind Wilde. Richtige Wilde!“

Damals waren wir viel zu aufgeregt um zu begreifen, dass nicht die Tschetschenen und auch nicht die Unterwelt, sondern allein das Fehlen von elementarer, staatlicher Rechtsordnung an diesem Verbrechen schuld war. Denn Verbrecher hat es schon immer und überall gegeben. Dramatisch wird es erst, wenn man sie fördert und nicht bekämpft. Daran sollten wir uns erst gewöhnen.

Die „wilden 90-ger“ fingen erst gerade an und wir ahnten nicht, dass die Sache mit Toljan nur die „Spitze“ des Eisbergs war und das „Beste“ noch kommen würde: blutige Bandenkriege und Schießereien auf offener Straße, tägliche Schutzgelderpressungen und Auftragsmorde an Geschäftsleuten, arglistige Finanzpyramiden, grassierende Hyperinflation und jede Menge Räubertricks, die den Normallbürger seines letzten Hemdes beraubten. Und als Krönung des Ganzen: die Geburt der „Neurussen“. Eine Klasse von Mensch, die alles nur an Geld und Profit misst.

Ihre Willkür und ihre Gier, ihre Gewaltbereitschaft und ihr Zynismus, darauf waren wir gar nicht vorbereitet. Niemand ahnte, dass so etwas eines Tages möglich wäre. Tief in uns drin lebte noch der naive sowjetische Mensch, dieses altruistische Arbeitstier, das immer noch an die Ideale und die Gerechtigkeit der alten Ideologie glaubte, während das neue Leben draußen bereits ganz andere Regeln und Gesetze schrieb. Ich ahnte nicht, wie schnell dieser Mensch in uns krepieren würde.

Schnell. Viel zu schnell. Als wäre alles was man uns gelehrt hatte nur Schall und Rauch. Zurück blieb nur ein hässliches, neidisches, egoistisches, blutgieriges Raubtier. Ein Monster, das das Böse und das Niedere in einem Menschen weckte.
Der Tag, an dem wir Zeugen von Toljans Vertreibung wurden, war der Tag, an dem man uns eine unsichtbare Grenze überschreiten ließ. Alle gemeinsam und jeder für sich allein. Danach war nichts mehr wie früher…

Es war erschreckend festzustellen, wie leicht doch die Menschen im Grunde einzuschüchtern waren. Es reichte nur einmal öffentlich ein Exempel zu statuieren, wie es mit unserem Busfahrer geschah, um eine zivilcouragierte Gesellschaft über Nacht in eine angstgelähmte Herde von Mitläufern zu verwandeln, die sich nur von darwinistischen Gesetzen, Primärbedürfnissen und Selbsterhaltungsinstinkten leiten ließ.

Als ein wohlhabender Mann, der für seine Bestechlichkeit in der Siedlung bekannt war, Opfer einer Gelderpressung wurde, haben wir das Stöhnen in seiner Wohnung stillschweigend ignoriert, als die Schergen der Mafia (diesmal die Unsrigen) den frischgebackenen „Geschäftsmann“ mit einem glühenden Bügeleisen „gestreichelt“ haben. Es war uns egal. Hauptsache nicht wir.

Und wenn „Bratki“- (so hießen im Volksmund die kräftigen Banditen in schwarzen Lederjacken, die zum Symbol und Markenzeichen dieser verfluchten Zeit wurden), Tag für Tag ihre Schutzgelder in den Läden und auf den Märkten des Landes eintrieben, taten wir auch so, als wäre nichts passiert. Als ginge das überhaupt niemanden etwas an. Man sah lieber weg. Das war gut. Für uns und für sie.

Man las täglich in den Zeitungen, welcher Juwelier, Geschäftsmann oder einfacher Bürger in der vergangenen Nacht verprügelt, getötet oder ausgeraubt worden war und empfand nichts. Man hatte nur Angst. Angst um sich selbst. Der Rest war „normal“. Es wurde zum Alltag. Wir haben die Achtung vor dem Leben verloren und wenn man das zulässt, ist ein Mensch kein Mensch mehr.

[center]XXX[/center]

Das Leben in Deutschland bot einen angenehmen Kontrast. Hier gab es keine korrupten Beamten, die für Betrüger jeder Art falsche Besitzurkunden oder Papiere ausstellten und andere Menschen damit bewusst mittel- oder obdachlos machten. Keine „getürkten“ Firmen oder „falschen“ Banken, die für einen Tag gegründet wurden, nur um am nächsten Tag mit dem Geld und den Ersparnissen der Kunden auf Zypern zu verschwinden. Oder käufliche Richter und Polizisten, die nach Erstattung einer Strafanzeige sofort die Nummer des angezeigten Bosses oder Ganoven wählten und sie gegen eine kleine „Gehaltsaufbesserung“ mit der Information und der Adresse des Opfers „versorgten“.

Die Geschäftsleute in Deutschland brauchten keine gepanzerten Limousinen zu fahren und trugen ganz bestimmt keine kugelsicheren Westen. Braucht man das, wenn man seine Geschäfte legal und ehrlich führt?

Auch sah ich keine durchtrainierten Typen in Sportanzügen und Lederjacken die Schutzgelder von den Laden- und Restaurantbesitzern, wie bei uns, kassierten.
Mir war schon bewusst, dass es auch hier eine „Schattenwelt“ und Kriminalität gibt, aber für das Auge der Normallbürger blieb sie in den meisten Fällen unsichtbar. In unserem Alltag war diese jedoch überall und jederzeit präsent.

Je länger ich in dieser ruhigen, satten und sauberen Märchenwelt lebte, umso absurder, unglaubwürdiger und schockierender kamen mir dabei die Bilder aus meinem alten Leben vor. So absurd und unglaubwürdig, dass man sich manchmal selbst erstaunt fragte: war es damals tatsächlich so schlimm? Wie hat man das alles trotzdem überstanden? Wie schrecklich muss es uns allen ergangen sein, wenn man selbst – obwohl damals noch ein Kind - sich noch heute immer noch mit Schauer daran erinnerte, dieses Gefühl der Aussichtslosigkeit und der permanenten Angst von damals nie vergessen hatte.

Trotzdem konnte und wollte ich mich niemals von meinen Wurzeln und meiner Vergangenheit lossagen. Dafür steckte „zu viel“ Russland in mir drin. Mit Ende zwanzig, verspürte ich plötzlich den Wunsch, mich mit der damaligen Zeit und der Geschichte der Sowjetunion auseinanderzusetzen, um die Wahrheit über mein Land zu erfahren und meinen inneren Frieden zu finden. Ich fing an, alles über Russland zu lesen, was es auf dem Markt zu lesen gab.

Bei einem Besuch in der örtlichen Bücherei entdeckte ich eines Tages ein neues Buch, das dem modernen Russland gewidmet war. Seine Autorin entstammte einer Familie von politischen Dissidenten, die die Sowjetunion in den achtziger Jahren in Richtung Übersee verlassen hatte und erst mit dem Beginn der Jelzin- Ära wieder in das postkommunistische Russland zurückgekehrt war.

In ihrem Buch schrieb sie voller Begeisterung über das Leben in den 90ger Jahren, die sie für das goldene Zeitalter und den Inbegriff der russischen Demokratie hielt. Eine Epoche, in der jeder, der Grips hatte und wirklich etwas erreichen wollte, seine Pläne und Ideen realisieren konnte, weil es keinerlei Einschränkungen und Verbote wie zur Sowjetzeit gab. In dieser Zeit wurden tausende neue Unternehmen gegründet und die russischen Märkte mit ausländischen Waren und Werbung überschwemmt. Auch fand ein intellektuelles und kulturelles Umdenken statt. Russland war im Begriff, ein freies und demokratisches Land zu werden.

Dass viele Bürger dabei leer ausgingen oder arglistig betrogen wurden und manche von ihnen sogar ihr Leben und ihre Existenz verloren haben, sei zwar traurig und wahr, gehörte jedoch irgendwie zum Leben dazu. Schließlich gäbe es in jeder Epoche Gewinner und Verlierer.
Was sie persönlich betrifft, so hatte die Autorin niemals über die Gefahren von damals nachgedacht und war immer optimistisch und zuversichtlich geblieben. Dass sie auch das Opfer von Kriminellen, von Betrug oder Gewalt werden könnte, kam ihr niemals in den Sinn. Sie war zu jung und voller Ideen und Tatendrang. Im Übrigen konnte Ihre Generation im postkommunistischen Russland alles tun und alles erreichen und hatte sich maßgeblich an dem Entwurf und der Bildung des neuen demokratischen Gesellschaftsmodells der Russischen Föderation beteiligt. Auch räumte sie der Jelzins Regierung große Fortschritte in Sachen unabhängige Medien, Demokratie und Wirtschaftsförderung ein. All das wurde nach dem Jahrhundert Wechsel verworfen und zunichtegemacht. So die Autorin.

Ich las ihre Zeilen mit gemischten Gefühlen. Über das Russland von heute kann und will ich nichts sagen. Ich war nie dort und ich kenne es nicht. Aber die 90-ger Jahre, sie sind mir schon in Erinnerung geblieben. In vernahm in ihren Worten Selbstbewunderung und Arroganz. Ich war mit ihrem Bild und ihrer Sicht der Dinge überhaupt nicht einverstanden.
Es machte mich traurig und enttäuscht, dass sie ausgerechnet jene schreckliche Zeit lobte und für einen Segen für Russland hielt, die für die meisten Bürger unseres Landes als Symbol für Willkür, Gewalt, Not und Unrecht in Erinnerung blieb. Nur der zweite Weltkrieg und Stalins Terror waren schlimmer.

Ich weiß nicht, ob es in einer freien Marktwirtschaft normal und üblich ist, wenn eine Handvoll von Ganoven und Spekulanten über Nacht zu Fabrikunternehmern, Bankinhabern oder Oligarchen wird und alle Reichtümer und Bodenschätze ihres Landes unter sich aufteilt, während der Rest vom Volk unter der Armutsgrenze lebt und hungert. Denn genau das und nichts Anderes war damals in Russland gang und gäbe.

Was die angebliche Meinungsfreiheit betrifft, habe ich ebenfalls meine großen Zweifel. Würdet ihr die Presse wirklich als frei und unabhängig bezeichnen, wenn man auf das Geld der privaten Herausgeber angewiesen ist, deren Weste und Ruf oft alles andere als blütenrein und sauber war und denen die Medien damals gehörten. Wie kann man da ernsthaft von Unparteilichkeit reden.

Auch würde man in einer wahren Demokratie niemals zulassen, dass ein Menschenleben im Beisein der Öffentlichkeit so einfach und ungehindert zerstört wird, wie das mit dem Busfahrer in unserem Haus geschehen ist. Ein haarsträubender und dennoch kein Einzelfall im Russland Jelzins.

Vielleicht war die Autorin tatsächlich so naiv, dass sie volle Regale in den Läden, ausländische Werbespots und Importwaren, Firmen und Banken in Moskau für die Anzeichen des kommenden Wohlstandes und den Einzug der Demokratie in ganz Russland hielt. Aber seien wir doch ehrlich, man wird nicht über Nacht zum Demokraten, in dem man Hemden aus Frankreich oder Schuhe aus den USA trägt. Das wäre zu leicht und zu primitiv.
Womöglich hatte sie einfach zu lange in den Staaten gelebt und die russische Seite an ihr bewusst oder unbewusst verdrängt, weshalb sie jetzt den klassischen Fehler aller Ausländer beging, indem sie anfing ihre alte Heimat mit einem westlichen Maß nach Äußerlichkeiten zu beurteilen, statt Russland mit dem Herzen zu begreifen.

Das kann und würde mir nicht passieren. Auch kann ich euch beim besten Willen nichts Gutes über die 90-ger erzählen. Eine Russian Crime Story wie diese, jedoch schon…


Ende
Roman Dell
28.10.2015-12.01.2016
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Einer meine Lieblingsorte in unserer Stadt, ist nach der Stadtbibliothek und dem Schloss Horst, ohne Zweifel der alte Filmpalast Schauburg. Mir gefällt sein nostalgisches Flair und die wehmütige Atmosphäre einer längst vergangenen Zeit in die man eintaucht, sobald man die schweren Glastüren des Lichthauses auf der Horster Straße betritt. Ähnlich wie der junge Salvatore aus Guiseppe Tornatores Meisterwerk Cinema Paradiso, bin ich genauso von der Welt des Kinos fasziniert, und habe mich sofort in Schauburg und seine Räume verliebt.
Ich verdanke diesem alten Filmpalast viele bewegende Momente, einzigartige Begegnungen und seit kurzem auch diese Erzählung. Und wenn einer oder anderer von euch die Lust verspürt, diese Geschichte danach in der Printform zu haben, dem rate ich schnell sich eine alte April-Ausgabe von Gelsenkirchener Stadtmagazin ISSO zu besorgen, wo sie letzten Monat erschien ist.


[center]Cinema Schauburg

Erzählung
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Einer meine Lieblingsorte in unserer Stadt, ist nach der Stadtbibliothek und dem Schloss Horst, ohne Zweifel der alte Filmpalast Schauburg. Diese Verbundenheit liegt nicht allein an den attraktiven Eintrittspreisen und dem vorzüglichen Programm des Kommunalen Kinos, das ich mir von Zeit zu Zeit zu Gemüte führe, wobei der wirtschaftliche Aspekt natürlich auch eine Rolle spielt. Nein, es gibt noch einen viel wichtigeren Grund, warum ich so gern und vor allem so oft in der Schauburg bin und der ist – zugegeben - romantisch. Mir gefällt sein nostalgisches Flair und die wehmütige Atmosphäre einer längst vergangenen Zeit in die man eintaucht, sobald man die schweren Glastüren des Lichthauses auf der Horster Straße betritt.
Seine warme, gedämpfte, fast schon intime Beleuchtung und die dunkelbraune Holzverkleidung der Wände, die glänzenden Spiegel im Treppenaufgang und der alte Filmprojektor im Foyer, aber auch das große schwarzweiße Marlene Dietrich Bild und die verglaste Kasse im nostalgischen Look, gleich im Eingang neben der Getränke- und Kartenverkaufsstelle, bringen mich jedes Mal dazu, bei deren Anblick sofort an die Drei Kameraden von Remarque zu denken.

Das ist kein bisschen gelogen oder übertrieben. Der Besuch in der Schauburg ist wie eine Reise mit der Zeitmaschine. Wenn man dort eine Weile stehen bleibt und in sich geht, kommt man sich irgendwann mal tatsächlich wie Robert Lohkamp vor, der im Deutschland der zwanziger Jahre sehnsüchtig und ungeduldig auf die Ankunft seiner Geliebten Pat Hollmann wartet, die jeden Augenblick im Raum reinplatzen, ihn stürmisch umarmen und küssen wird. Eine zarte und blonde Gestalt im eleganten Abendkleid, schwärme ich…
…bis eine Horde flippig angezogener Mädchen mit Pink gefärbten Haaren, Piercing und Smartphones auftaucht und kichernd Karten für einen neuen Twillight- Film mit Robert Patterson bestellt. Aber die Zeit davor, sie gehört mir und meinem Traum.

Dieses Gefühl, sich plötzlich in einer anderen Zeit zu befinden, abseits von Handy, Internet und digitaler Welt, kommt nicht von ungefähr. Das Theatergebäude entstand tatsächlich in der Weimarer Zeit und zwar im selben Jahr, als Erich Maria Remarque mit seinem Debüt-Roman Im Westen nichts Neues den internationalen Durchbruch schaffte und über Nacht zum Bestsellerautor und zur Ikone der Antikriegsbewegung wurde. Es wurde 1929 gebaut und danach einige Male renoviert und restauriert. Dabei hat dieses Bauwerk trotz Krieges und Zeitwandels kaum etwas von seiner historischen Kulisse und Atmosphäre verloren. Jeder Zentimeter Boden und die Luft hier sind mit Geschichte, Magie und Erinnerungen getränkt. Zumindest für einen Cineasten, Nostalgiker und Schöngeist wie mich.

Womöglich gibt es da noch einen anderen Grund, weshalb dieses alte Kino in Gelsenkirchen- Buer mir so am Herzen liegt. Sein Vorführungssaal „Schauburg“ im Erdgeschoß, erinnert mich jedes Mal an die altmodischen Kinosäle der Sowjetunion meiner Kindheit, die ich im hochmodernen Deutschland zwanzig Jahre später, doch noch vermisse. Sein dunkelroter Vorhang und schmale Rollteppiche zwischen den Gängen, klassische Klappstühle und bunte Plakate mit der Filmvorschau, die dem Besucher jedes Alters viel Abenteuer, Spannung und Spaß versprechen. Das ist mein Reich. Hier begegne ich meiner Kindheit wieder. Derselbe Geruch, die Atmosphäre, die Optik, selbst das Kribbeln im Bauch. Alles genauso wie bei uns damals. Nur Coca-Cola, Popcorn und Snacks. Das hat bei den Sowjets nicht gegeben. Man musste mit den“ irdischen Bedürfnissen“ bis zum Ende der Vorstellung warten, weil die sowjetische Ethik den Verzehr von Speisen und Getränken während einer Kulturveranstaltung für störend, unangebracht und ein Zeichen von mangelnder Bildung und Erziehung hielt, was ich, zugegeben, manchmal gar nicht so falsch finde.

Anders, als der Leser im Westen gerne glaubt, bestand das traditionelle sowjetische Kinoprogramm nicht ausschließlich aus Propaganda- und Kriegsfilmen, die uns die Liebe zur Heimat oder die Treue zum Sozialismus beibringen sollten, (wobei es Filme dieser Art natürlich auch gab). Es bot vielmehr eine große und interessante Auswahl für Kinder und Jugendliche an, die ich immer noch mit Genuss und Begeisterung anschaue. Ein dreifacher Dank dem Erfinder von YouTube.

Einige Titel fand ich später im Handel wieder. Sowjetische Märchen und- Abenteuerfilmklassiker wie Die Schneekönigin, Die Ballade vom tapferen Ritter Ivanhoe, Märchen in der Nacht erzählt, Abenteuer mit der Tarnklappe, Feuerrote Blume, Aladins Wunderlampe, Scheherazades letzte Nacht , Das Märchen vom Zaren Saltan, Die Pfeile des Robin Hood, Väterchen Frost, Sadko, Geist aus der Flasche oder Das purpurrote Segel sind für viele Ostdeutsche bereits ein Begriff, dem westlichen Zuschauer jedoch erst seit kurzem bekannt, nachdem ein Filmverleih aus Berlin diese Meisterwerke der russischen Filmgeschichte auf Blu-Ray und DVD veröffentlicht hat.

Verglichen mit dem Westen war das Kino in der UdSSR fast spottbillig. Für die Dauer der Sommerferien, die bei uns immer 3 Monate dauerten, bot die Schule jedes Jahr ein ermäßigtes Abo für Kinder und Jugendliche an. 15 Tickets für nur 1 Rubel und 50 Kopeken, also circa 10 Kopeken pro Film, bei einem Durchschnittsgehalt von cira.120 Rubel.

Diesen wohltätigen Preisen verdanke ich jede Menge gute Filme und schöne Stunden in meinem Leben, die ich zusammen mit meiner Zwillingsschwester Viktoria und Großmutter Olga im Schachtyner Filmpalast „Oktober“ verbracht habe. Eine sorglose und glückliche Zeit.
Rückblickend betrachtet wurde mir irgendwann mal bewusst, welches Kunststück den sowjetischen Filmemachern damals gelungen ist. Sie haben es geschafft, solche ernsten Themen wie Liebe, Tod, Freundschaft, Gute und Böse, einem kleinen Zuschauer wie mir, trotz Zensur und Ideologie, verständlich und anschaulich zu machen, ohne die Kinderpsyche dabei zu verletzen oder die Vorschriften der FSK zu überschreiten, die es damals noch gar nicht gab.
Ausländische Filme gab es in der Sowjetunion übrigens auch. Ich kann mich dabei spontan an reißerische Titel wie Die Mafiosi-Braut, Crocodile Dundee oder King Kong erinnern, die in unserer Stadt damals im Kino liefen und auch ziemlich erfolgreich waren. Weil es in der Sowjetunion Ende der 80-er Jahre noch keine Videorecorder gab, aber die Kinotickets sehr günstig und preiswert waren, konnte jeder Bürger und jedes Kind sich den Luxus leisten, jeden x-beliebigen Film so oft wie man wollte auf der großen Leinwand anzuschauen, um den Streifen besser in Erinnerung zu behalten, weil man ihn danach höchstwahrscheinlich nie wieder zu sehen bekam.

Und so musste meine Oma auch Opfer bringen und sich den Film Hong Kil- Dong – ein brandneuer Kassenschlager aus Nordkorea - mit mir bis zum Brechen anschauen, weil ich von diesem Streifen… auch nach dem 12. Gang ins Kino… immer noch nicht genug hatte.
Das war der größte Liebesbeweis, den eine Kung-Fu desinteressierte Oma ihrem Kung-Fu besessenen Enkel machen konnte, was ich ihr bis heute nicht vergesse. Liebe Oma! Du bist die beste!

Dieses Martial-Art-Märchen, (in dem es um den unehelichen Sohn eines Adeligen ging, der die reichen Unterdrücker und fremde Invasoren im Korea des XVII. Jahrhunderts mit dem Schwert und der traditionellen koreanischen Kampf-und Waffenkunst Kumdo bekämpft und sich dabei in die Tochter eines Aristokraten verliebt, deren Familie eine Verbindung mit ihm wegen seiner „niederen“ sozialen Herkunft ablehnt), sorgte nicht nur in Schachty, sondern in der ganzen Sowjetunion und dem gesamten Ostblock monatelang für ausverkaufte Kassen und Furore, trotz der geschickt untermauerten sozialistischen Moral- und Klassenkampfpropaganda.
Danach mussten fast alle Bäume in Schachty um ihre Äste bangen - wir ahmten begeistert Hon Gil Dongs Kampftechnik mit unseren imaginären Schwertern nach.

Meinen ersten Film in Deutschland schaute ich mir in einem überfüllten Viktoria-Filmtheater in Hilchenbach- Dahlbruch an. Es war ein Stummfilm. Stumm im Sinne, dass ich damals nur die beweglichen Bilder wahrnahm, aber keine Sprache verstehen konnte. Trotzdem sah ich wie gebannt zu, wie Johny Depp, alias Don Juan de Marco, Marlon Brando und Faye Dunaway, einem älteren amerikanischen Ehepaar mitten in einer schweren Beziehungskrise, den Zauber und die Kunst der Liebe auf der Leinwand erklärte. Ein schöner Film voller Herzwärme und Poesie. Danach mussten erst einige Jahre vergehen, bis ich eines Tages wieder im Kino saß. Drei Mal dürft ihr raten… In der Schauburg natürlich.

Ähnlich wie der junge Salvatore aus Guiseppe Tornatores Meisterwerk Cinema Paradiso, der sich mit dem alten Filmvorführer Alfredo anfreundet und sein Leben der Welt des Kinos verschreibt, verliebte ich mich ebenfalls in das Cinema Schauburg und seine Räume. und machte mir einen Zufluchtsort daraus . Seitdem führe ich, gewissermaßen, ein Doppelleben. Meine sterbliche Hülle gehört dem Alltag: dort geht sie arbeiten, isst, trinkt oder ruht sich aus. Mein zweites Leben findet meist im Verborgenen statt. Beim Lesen, beim Schreiben, bei Musik oder im Kino blüht meine Seele richtig auf. Das sind die Stunden, für die ich lebe.
Im ewigen Streit der Gelehrten, ob Kino eine Kunst oder ein Animationsmittel ist, habe ich mich für die Kunst entschieden. Ich halte Filme für eine fortgeschrittene Form der Malerei. Sie halten Leben, Gefühle und Zeit im Bild fest. Nur, dass bei den Gemälden immer nur eine einzige Momentaufnahme möglich ist, während das Kino die komplette Geschichte, das Leben in allen seinen Facetten und Farben, auf der Leinwand zeigt. Darin verbirgt sich die wahre Magie des Kinos: Es kennt KEINE Grenzen und macht ALLES möglich.

Ich weiß nicht, ob das den beiden Brüdern Lumière damals tatsächlich bewusst war, als sie ihren ersten Film in Paris zeigten, der stumm war und nur eine knappe Minute dauerte. Diese eine Minute veränderte die Welt… und mein Leben gewiss auch.
Vor allem hat das Kino mit Gedanken, Sehnsüchten und Emotionen zu tun. Es hilft uns, Dinge, Geschichten, Situationen und Gefühle zu erleben, die uns im wahren Leben oft versagt bleiben: zum Glück oder auch nicht. Und wenn man die Größe und den Reichtum eines Menschenlebens an Erfahrungen dieser Art messen soll, so habe ich dem Cinema Schauburg in der Tat viele bewegende Momente, einzigartige Begegnungen und außergewöhnliche Geschichten zu verdanken.

Zusammen mit Jalan und Ushana - einem getrennten Liebespaar aus Valley of Flowers - reiste ich zwei Stunden lang durch den Himalaya und die Zeit, konnte dabei die Kälte und das Rauschen des Bergwindes in meinen Ohren spüren und habe bis zum Schluss gezittert und gehofft, dass ihre Liebe durch die Wiedergeburt den Fluch des Ungleichgewichts im Universum besiegt. Ein Happyend… das leider ausblieb.
Im selben Kino aber, schon 4 Jahre später, musste mein Herz erneut in Tränen baden. Ich habe mich wie ein Jüngling in Rinko Kikuchi verguckt - eine bitterschöne Auftragskillerin in Eine Karte der Klänge der Stadt Tokio und konnte die Weinkrämpfe nicht zurückhalten, als sie dem Charme ihres nächsten Opfers restlos verfiel und den „Auftrag“ stornierte. Diese „Herzensschwäche“ kam ihr teuer zu stehen. Sie hat dafür mit dem eigenen Leben bezahlt. Der „betrogene“ Kunde brachte meine traurige Heldin persönlich zur Strecke.

Ich saß mit Jeremy Irons im "Nachtzug nach Lissabon" bei seiner Suche nach dem geheimnisvollen Verfasser eines Lyrikbuches, der im Portugal während der Salazar-Diktatur die Frau seines besten Freundes liebte. Oder musste erschüttert mitansehen, wie Sir Michael Caine in Mr. Morgan's Last Love die letzte Liebe seines Lebens zu einer jungen und lebensfröhlichen Tanzlehrerin erlebt, bevor er sich endgültig für den Freitod entscheidet, um mit seiner verstorbenen Frau im Jenseits zusammen zu sein. Ebenfalls mit einem warmen Kloß im Hals.
Und als Imran Khan in Lunchbox in einer schwülen Nacht in Mumbai einsam auf einem Balkon stand und auf die leuchtenden Fenster des Nachbarhauses starrte und sich nach der Wärme und der Gemütlichkeit einer Familie sehnte, die dort gerade das Abendbrot zu sich nahm, während seine eigene Familie schon längst nicht mehr da war, war der Schmerz in seinem Herz auch mein Schmerz und seine Sehnsucht meine Sehnsucht.

All das wäre ohne Cinema Schauburg gar nicht möglich. Die Zeit und Epochen zu überfliegen, wildfremde Orte und Menschen aufzusuchen, ihr Leben zu leben als wäre es dein eigenes gewesen und dennoch man selbst zu bleiben. So viel Macht besitzt nur das Kino und ich nutze und koste seine magischen Kräfte voll aus.

Wie hätte ich sonst den persischen Wüstentänzer Afshin bei seinen illegalen Auftritten in den Sanddünen Irans begleiten können, um seinen Drang nach Freiheit und Schönheit besser zu verstehen, an einem Ort, wo die Künste ein Verbrechen und unter Strafe verboten waren, ohne mein eigenes Leben dabei in Gefahr zu bringen? Oder Seite an Seite mit der jungen Afghanin in Stein der Geduld stundenlang am Bett ihres im Koma liegenden Gatten mit den Kindern zu wachen, während die Artillerie der Taliban halb Kabul in Schutt und Asche legte.
Bis jetzt sorgte jeder Gang in die Schauburg bei mir immer für Gänsehaut und feuchte Augen. Ich fühle mich danach ziemlich benommen und schwer, fast in einer Art Trance. Und wenn das Licht im Saal langsam aufgeht, brauche ich immer etwas Zeit, bis ich mich von den Fängen des Erlebten befreit habe und begreife, dass ich wieder „zurück“ bin und alles bloß „nur“ ein Film ist. Ein Film, der mir die vielen Gesichter des Lebens zeigte. Heute ein hübsches Antlitz, morgen eine hässliche Fratze.

Ich liebe die Dunkelheit im Saal. Ihr pechschwarzer Mantel gibt den Gefühlen freien Lauf und löst Scham, Verklemmung und Hemmungen auf. Während die meisten Menschen „schwere Kost“ bewusst meiden, „weil das Leben ohnehin viel zu kurz ist, um sich mit Dingen zu beschäftigen, die einen nicht glücklich machen“, saugt mein Herz Geschichten wie diese, wie ein Vampir das Blut auf. Ich höre nicht auf, naiv zu hoffen, sie könnten uns am Ende doch noch zu besseren Menschen machen, damit man die Liebe und die Menschlichkeit nicht verlernt. Denn gleicht die Seele eines Menschen nicht einem feinen Musikinstrument? Sie stumpft ab, wenn man nicht regelmäßig übt.

Heute konnte ich es wieder nicht sein lassen und habe mir in der Schauburg Shakespeares Macbeth mit Michael Fassbender angeschaut. 115 Minuten düsteres Rachedrama aus dem mittelalterlichen Schottland und eine bildgewaltige Schlachtpalette.

Nun fahre ich wie benommen mit der Straßenbahn nach Hause. In meinen Ohren klingt noch immer der Ruf des Gemetzels. Mir laufen dauernd schaurige Bilder und Szenen vor den Augen. Die wutverzehrten Gesichter der Krieger, die den Feind auf dem matschigen Schlachtfeld mit ihren Schwertern und Dolchen niederstechen, Flüsse von Blut, Lady Macbeth, der tote König und nebelige Täler…

Der monotone Januarregen schlägt wütend auf die Scheiben. Eigentlich sollte es um diese Jahreszeit Schnee und keinen Regen geben. Die Straßen sind leer und baden im Neonlicht. Ein trauriger Sonntag. Melancholie. Ich drehe mich um und fange an Bäckereien, Tankstellen, Häuser und einzelne Passanten an mir vorbeiziehen zu sehen und wahrzunehmen. Der Film ist aus. Meine irdische Hülle nimmt langsam Besitz von mir. Ich frage mich nur, wie lange?
Denn sollte ich erneut die Sehnsucht und Lust nach einer kleinen Zeitreise wie heute verspüren, so wird mein Schicksal mich immer wieder ins Cinema Schauburg verschlagen: meinen Zufluchtsort, mein Reich, meine Scheinwelt. Oder wie der Titel eines Almodovar Filmes es am besten auf den Punkt bringt: Sie ist die Haut in der ich wohne...


Ende
Roman Dell

01.11.2015- 20.02.2016
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Man kann das Leben auf unterschiedliche Art betrachten. Die Optimisten würden es als einen Regenbogen bezeichnen, die Pessimisten einen Leidensweg darin sehen. Mir persönlich kommt das Leben wie ein endloser Zug vor, der durch den Tunnel der Zeit schnell und unaufhaltsam rast. Nur der Tod und die Geburt sorgen täglich für einen Zwischenstopp. Ihr Kreislauf verleiht dem Leben in seiner Gesamtheit die Unsterblichkeit. Darum geht es in meiner neuen Geschichte heute. Ich lade Sie zu einer Fahrt mit dem Zug des Lebens ein.


[center] Der Zug des Lebens

(eine Erzählung)[/center]

Als Kind ahnte ich nicht, dass das Leben ein Anfang und ein Ende hat und dass jeder Mensch eines Tages stirbt. Das wurde mir erst mit dem Tod meines Großvaters bekannt, wenn auch nicht wirklich bewusst. Das kam später, wesentlich später.
Ich liebte den Großvater über alles auf der Welt. Vor allem, weil er mir jeden meiner Streiche bedingungslos verzieh und dabei immer noch gut gelaunt blieb. Er stand jeden Morgen beim Sonnenaufgang auf und zauberte für uns und Oma das Frühstück in der Küche. Eine einfache Mahlzeit, die fast immer aus schwarzem Tee, Weizenbrot, gekochten Eiern, Grütze und Quark bestand. Ein idealer Zeitpunkt für meine Streiche.

Im Winter schnüffelte ich gerne in seiner alten Kommode und stellte deren Inhalt immer auf den Kopf. Alte Briefumschläge, Taschenmesser, Klammern und Nadeln. Alles landete auf den Boden. Der Großvater besaß viele interessante Dinge. Im Sommer legte ich mich heimlich in sein Bett hin, das Opa täglich mit militärischer Sorgfalt aufgeräumt hatte und genoss die angenehme Kühle seiner Schlafdecke, weil meine eigene zu dick und zu warm war. Die Großmutter hatte panische Angst davor, dass ich mich erkälte. Früher oder später wurde ich dort von dem Großvater „entdeckt“. Natürlich sah das Bett nicht mehr so frisch und akkurat wie vorhin aus, worauf der Großvater mich stets in die Arme nahm und bis zu Zimmerdecke hochzog, während er mit gespielter Strenge laut fragte: -“ Wer hat das Feldlager eines alten Haudegens kaputt gemacht? Den werde ich gleich an die Zigeuner verschenken“
Darauf hatte ich immer eine Antwort bereit. Ich legte ihm die Arme um den Hals und sagte mit unschuldiger Miene
- „Das wird der liebste Großvater niemals tun“
Und wenn er mich dann nach dem Grund fragte, antwortete ich ernst und voller Überzeugung- „Weil Opa seinen Enkel abgöttisch liebt“.

Eines Tages, ich ging inzwischen auf die Grundschule, wurde mir von der Mutter und der Großmutter gesagt, der Opa sei jetzt schwer krank und dürfe nicht mehr besucht werden. Ich nahm diese primitive Lüge für bare Münze, anders als Viktoria, meine Zwillingsschwester, die schon damals sehr klug und intelligent war. Meine eigene Gutgläubigkeit grenzte dagegen an Naivität. Erst als der Opa auch nach zwei Jahren immer noch „krank“ war, schöpfte ich den Verdacht, dass da etwas nicht stimmt und stellte meine Mutter und meine Großmutter zur Rede.

An diesem Tag erfuhr ich, dass Opa tot war und aus Liebe zu uns gebeten hatte, die Enkelkinder, so lange es nur ging, vor der Wahrheit zu verschonen.
Es war meine erste Berührung mit dem Tod. Davor hatte ich das Wort schon öfters im Fernsehen gehört, wenn ein oder anderes Mitglied des Politbüros verstarb. Plötzlich leuchtete mir für einen Augenblick ein, was dieses Wort in der Praxis bedeutete. Der Tod bedeutete, dass man… verschwand. Für immer und ganz. Das musste man erstmal begreifen.

Die Tatsache, dass „der alte Haudegen“ mich nie wieder in den Arm nehmen, kein Frühstück machen, überhaupt nicht mehr da sein würde und die physische Leere, die nach seinem Tod auf einmal in dem Raum stand, lösten in mir Tränen der Wut und der Reue aus. Mir fehlten die Wärme und die Gemütlichkeit, die mit dem Opa ebenfalls weggingen. Vor allem die Tatsache, dass mir so wenig Zeit mit ihm vergönnt war und ich ihn dennoch so oft geärgert hatte, bereitete mir plötzlich starke Gewissensbisse.

Das Bild des Großvaters, eines einst sehr starken und inzwischen nur noch gebrechlichen Mannes mit breiter Stirn und dem traurigen müden Gesicht eines Plutarchs, begleitete mich noch mehrere Tage lang. Dennoch schaffte ich es bald, auch diese erste Erschütterung in meinem Leben schnell zu überwinden.

Mein Alter und die Zeit halfen mir dabei. Mein Kindesverstand weigerte sich, bestimmte Sachen zu begreifen. Der Tod gehörte ebenfalls dazu. Nach und nach wurde das Bild des Opas in meiner Erinnerung blass, bis der Gedanke an sein Ableben aus meinem Unterbewusstsein ganz verschwand, wie etwas Schreckliches… aber Einmaliges.

Mein Leben nahm seinen Lauf. Der Tod war wieder nur ein erwachsenes Wort, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Anders als mit dem Leben. Das war einfach. Das Leben bedeutete für mich, dass es mich gibt. Ich stellte mir dieses Wort wie einen endlosen Zug vor, der durch den Tunnel der Zeit rast. Schnell und unaufhaltsam. Meine ganze Familie saß da bereits drin. Eines Tages waren Viktoria und ich ebenfalls da und befanden uns seitdem ununterbrochen auf der großen Reise.

Der Zug des Lebens hatte keine Eile mit mir. Sein Tempo glich dem Schritt einer alten Schildkröte und jeder einzelne Tag zog sich in die Länge. Einmal im Jahr machte der Zug jedoch einen kurzen Halt und ich rückte im Wagon ein Abteil weiter, das immer ein wenig größer und anders als das vorige war. Dieser Tag war mein Geburtstag.

Damals wünschte ich mir, der Zug des Lebens würde nicht so langsam fahren, ja nahezu schleichen, aus Sorge (oder Angst), ich könnte noch so vieles von der Welt verpassen, ohne mir dabei im Klaren darüber zu sein, dass ein menschliches Leben einer Sanduhr gleicht, in der mit jedem Tag, (den man im Zug des Lebens verbrachte), ein Körnchen Sand weniger drinbleibt, bis der irgendwann mal ganz aufgebraucht ist.

Dieser Gedanke lag mir fern, auch wenn der schon immer irgendwo in der Tiefe meines Unterbewusstseins existierte. Nichtsdestotrotz wollte ich schneller erwachsen werden, um etwas Neues zu sehen und zu erleben, anders als dieses gewöhnliche Bild, dass ich aus dem Fenster des Zuges täglich sah und dachte nicht an die Sache mit der Uhr. Das Leben schien mir gleich und endlos zu sein und ich hatte das Gefühl, dass es immer so bleibt. Dieser Zug, unser Haus, meine Familie. Nichts würde uns auseinanderbringen können. Nichts würde sich bei dieser Fahrt ändern. Es würde immer und ewig so weitergehen. Und der Tod? Den gab es nur bei den anderen Menschen.

Als ich irgendwann mal mit dem Lesen anfing, trat dieses Thema erneut in mein Leben ein. Plötzlich erschien mir der Tod aus einer völlig anderen Perspektive.


[center]XXX[/center]

Der Tod bei Remarque oder Tolstoi besaß etwas Symbolisches und Anziehendes. Ein Hauch von Tragik, Sehnsucht und Heldentum. Ob nun der junge Soldat Paul Bäumer, der in den Gräben des Ersten Weltkrieges einer französischen Kugel zum Opfer fiel oder die verzweifelte Gräfin Anna Karenina, die in ihrem Selbstmord auf den Gleisen, den einzigen Ausweg aus der Liebeskrise sah, der Tod in der Weltliteratur war immer ein Opfer, kein „spurloses Verschwinden“. Das verlieh dem Tod einen gewissen Sinn und Attraktivität. Man hatte den Eindruck, für ein höheres Ziel gelebt zu haben, etwas zu bewegen und zu hinterlassen. Ein solcher Tod fürchtete man nicht. Ganz im Gegenteil. Man sehnte ihn sich sogar herbei.
Ich schwärmte für Werke mit tragischem Ausgang und war ständig auf der Suche nach solchen Titeln. Ich liebte DRAMEN und hielt diese Bücher für das Gewissen unserer Zeit. Eine willkommene Medizin gegen die Stumpfheit und das Abhärten der Seelen, denen man im Alltag regelmäßig begegnet .

Damals glaubte ich naiv, der Tod jedes einzelnen Menschen, egal ob durch Krankheit oder Selbstmord, im Krieg oder in Friedenszeiten, wäre lehrreich und käme einem Weltuntergang gleich, der jeden von uns (und die Menschheit insgesamt) gewaltig erschüttern und für immer verändern müsste. Wir würden die Lehre daraus ziehen und alles tun, um es nicht noch einmal zu wiederholen.

Die Männer und Frauen würden nicht mehr so grausam sein und würden aufhören, sich gegenseitig zu verletzen. Die Länder und Staatsoberhäupter würden ebenfalls aufhören ihre Kriege zu führen und wir Menschen, würden alle anderen Menschen um uns herum gut behandeln, und besser schätzen, damit wir uns keine Vorwürfe machen müssen, wenn diese Menschen später nicht mehr da sind. Dadurch würden die Welt und der Mensch nachhaltig besser und der liebe Gott würde uns ein langes Leben schenken, weil der Tod die Auslöschung einer kleinen Welt in der großen Welt ist. Die irreparable Zerstörung SEINES eigenen Meisterwerkes. Das dürfte der Allmächtige doch nicht zu lassen! Welche naive und lächerliche Vorstellung.

Eines Tages verfasste ich einen Artikel für die Zeitung, in dem ich die Dauer eines menschlichen Lebens spaßeshalber in Tagen ausgerechnet habe. Dem zu Folge hatte ein durchschnittlicher sowjetischer Bürger rund 27 000 Tage zu leben, wobei der größte Teil davon für Arbeit, Essen und Schlaf draufging. Zog man ihm diese Zeit ab, so blieben jedem von uns nur 13 000 Tage übrig, in denen wir mehr oder weniger bewusst für uns lebten. Eine „Entdeckung“, die ich damals für genial hielt. Heute schäme ich mich dafür. Ich kam mir in diesem Artikel sehr reif und sehr klug vor, dabei war ich nichts Anderes als ein Wörterdieb. Ein dummer Jüngling, der die Weisheiten anderer Menschen wie ein Papagei nachplapperte, ohne ein Wort davon wirklich zu verstehen. Ich begriff den Ernst dieses Themas nicht und spielte mit den Zahlen und Tagen der Menschheit, als ginge es dabei um Birnen oder Äpfel. Dabei hatte diese „Berechnung“ direkt oder indirekt mit dem Zug des Lebens zu tun. Manchmal ist die Jugend einfach nur peinlich.

In diesem Alter übte der Tod eine sehr starke Anziehungskraft auf mich aus. Ich sah darin etwas Mystisches und Dramatisches aber gleichzeitig auch Heroisches und Romantisches, das ich heimlich bewunderte, ohne dabei an den alten Haudegen und mein eigenes Kindheitserlebnis zu denken. Kein Wunder. Der Tod meines Großvaters lag schon einige Jahre zurück und die Wunde und der Schmerz die er hinterließ, waren inzwischen geheilt und vergessen.

…Und während dessen rollte der Zug des Lebens einfach weiter und ließ die Menschen um mich herum erscheinen und verschwinden.

[center]XXX[/center]

Mit achtzehn begannen die Räder des Zuges des Lebens auf einmal sich plötzlich schneller zu drehen. Ich lebte inzwischen in Westdeutschland. Die Tage und Wochen waren jetzt halb so lang, wie die Zeit von damals und auch das Bild aus dem Fenster veränderte sich, zwar nicht täglich, aber dafür regelmäßig.

Hin und wieder warf ich einen kurzen Blick aus dem Zug des Lebens und sah immer mehr Menschen und Landschaften an mir vorbeiziehen, ungeduldig und gierig auf all das was noch kommt. Die Jugend verleiht uns Menschen für kurze Zeit eine übernatürliche Kraft. Dieses trügerische Gefühl der eigenen Übermacht und Unsterblichkeit. Sie lässt uns glauben, es gebe nichts, was wir nicht könnten und wir hätten auch alle Zeit der Welt dafür, so dass man häufig dazu neigt, nahezu blind und unbekümmert durch das Leben zu rasen , ohne sich auch nur ein einziges Mal nach seinem eigentlichen Ziel und nach der dafür bemessenen Zeit auf der Erde zu fragen. All das kommt erst, wenn man schon in der Mitte des Zuges sitzt.

Mir ging es auch nicht anders. In dieser Phase des Lebens maß ich jedem einzelnen Tag, den ich in dem Zug des Lebens auf Reise verbrachte, keine besondere Bedeutung zu. Ob Zeit, Jugend oder Kraft. Ich glaubte genug von all dem zu haben. Vor allem die Zeit, die gab es für mich wie Sand am Meer. So kam es mir damals zumindest vor. Das ganze Leben lag doch noch vor mir. Wer achtet da schon auf ein winziges Körnchen?

Der Zug des Lebens gefiel mir immer mehr. Jetzt, wo ich endlich erwachsen war, hatte ich richtig Spaß an dieser Fahrt, die mir im Augenblick jede Menge Überraschungen und Abenteuer versprach. Ich ließ mich von dieser Euphorie anstecken und kam mir dabei wie der junge Leonardo Di Caprio vor, der auf dem Bug der Titanic steht und voller Begeisterung- „Ich bin der König der Welt“ in die Ferne schreit. Der Zug des Lebens war eine geniale Erfindung. Es machte viel Spaß damit zu reisen.

Ich bewegte mich rasch durch seine hellen Räume und atmete hastig den herben Geruch des Lebens ein, anstatt ihn langsam auszukosten, diese Momente richtig zu genießen. Damals begriff ich nicht, dass der Zug des Lebens mich gerade durch seine schönsten Wagons führte, das Beste vom besten zeigte und der Aufenthalt hier sehr kurz ist. Kürzer als einem lieb ist. Ich hatte keine Zeit das selbst herauszufinden. Eines Tages wurde diese idyllische Fahrt plötzlich unterbrochen. Ich erfuhr, dass meine Großmutter in Russland tot war. Es war meine zweite Begegnung mit dem Tod.

[center]XXX[/center]

Plötzlich war diese alte vertraute Welt meiner Kindheit wieder da und ich konnte mich wieder an alles erinnern. Jedes auch nur winzige Detail, das mir bis dahin vergessen oder verblasst zu sein schien, lebte jetzt wieder klar und deutlich in meinem Kopf auf. Diese milden Herbsttage, an denen ich die Oma nach der Schule besucht und ihr frisch zubereiteten Boretsch nach ukrainischer Art verschlungen habe. Unsere gemeinsamen Gänge ins Kino, wo sie mir zuliebe, zum x-ten Mal einen koreanischen Märchenfilm angeschaut hat. Oder die Bücher und Süßigkeiten, die sie mir von ihrer mageren Rente immer gekauft hat. Trotz der heftigen Proteste meiner Eltern. Dieses Stück Leben nahm man mir weg.

Als diese Nachricht mich erreicht hat, war ich gerade frisch verliebt, wie immer in ein falsches Mädchen. Diese Liebe war mein Glück im Unglück und nahm diesem Schicksalsschlag etwas von seiner Wucht ab. Half mir auch dieses Mal, diese schwere Zeit zu überwinden. Allerdings nicht unbeschadet. Als die Trauer in meiner Seele endlich nachließ und ich wieder in den Zug des Lebens zurückkehren konnte, wusste ich, dass etwas in mir drin sich verändert hatte. Und zwar für immer.

Obwohl die Räume des Zuges kurze Zeit später wieder im Sonnenlicht lagen und der herbe Geruch des Lebens erneut durch die Waggons floss, war meine Begeisterung für den Zug des Lebens plötzlich verschwunden. Dieses Abteil, das vorhin noch mit Farben und Hoffnung prall gefüllt war, mich mit Freude und Kraft ansteckte, wirkte jetzt nur noch einsam und verlassen und ich hatte eine neue Erkenntnis über das Leben gewonnen. Etwas, das ich als Kind nicht verstehen konnte und genau deswegen so gut verdrängt hatte. Etwas, das sich jetzt nicht mehr verdrängen ließ:
Der Tod ist etwas Schreckliches…aber nicht einmaliges. Er kommt immer wieder und holt sich jeden von uns...

[center]XXX[/center]

Inzwischen bin ich bis zur Mitte des Zuges vorgerückt und stelle dabei verbittert fest, wie alle Buchweisheiten, die mich damals faszinierten, Tag für Tag ihre Reize verlieren, sobald man ihre Bedeutung auf der eigenen Haut zu spüren beginnt, nach und nach noch mehr liebe und wichtige Menschen in seinem Leben verliert, sich von all dem romantischen Zeug aus der Jugend verabschiedet. Das sorgt für Reife und Ernüchterung.

Heute würde ich niemals auf die Idee kommen, das Leben der Menschen in Tagen auszurechnen, überhaupt danach zu denken . Auch habe ich aufgehört nach einem höheren Sinn im Leben daran zu denken oder mich für den Heldentod zu schwärmen. Dieser Mythos vom Tiefgang ist nichts als Unsinn. Der einzige Wert des Lebens ist, dass man einfach lebt. Und zwar je länger, desto besser. Das Leben ist zu schön, man fühlt sich nie bereit freiwillig abzutreten. Das ist das Geheimnis der Geheimnisse, auch wenn wir uns ständig beim Allmächtigen beklagen. Warum muss ein menschliches Leben überhaupt enden?

Neulich war ich im Garten meiner Eltern, Brombeeren sammeln und habe dabei erneut an den Zug des Lebens gedacht, mich an die Bilder, Landschaften und längst verschwundenen Menschen erinnert. Damals, als man noch blind und unbekümmert war und jeder Tag wie ein Wunder begrüßte. Mit zwanzig hätte Brombeeren sammeln mich ganz bestimmt nicht vom Hocker gerissen. Mit Mitte dreißig sieht die Welt völlig anders aus. Ich fühle mich von ihrer Leere und Traurigkeit erfasst. Diese Reise hat mich sehr verändert. Die Freude wird leise, die Farben- matter und der Geschmack fade. Ich fange an in die Ferne zu blicken und die Strecke zu begutachten, was ich vorher noch nie getan habe und begreife was die irdische Welt und man selbst wirklich ist: nur ein winziges Tröpfchen in dem Meer der Ewigkeit.

Mit jedem neuen Tag wird mir schmerzlich bewusst, wie klein der Kreis der Menschen wirklich ist, die unser Alltag und Glück im Zuge des Lebens steuern und ich erkenne mich selbst nicht. Alles, was mich damals wütend und fertiggemacht hat, ist plötzlich unwichtig geworden. Gleichgültig, lächerlich, nicht einmal eine Erinnerung wert. Ich würde am liebsten das Rad der Zeit zurückdrehen und ein Dutzend Waggons zurückspringen. Wieder in jenem Abteil sitzen, als meine Familie noch vollständig war. Die Großmutter und den alten Haudegen krampfhaft umarmen und diese sonnigen Tage mit ihnen genießen. Vor Freude heulen und nicht loslassen, so lange man kann. So lange man kann. Dieser Traum ist für mich alles Glück und Geld dieser Welt wert.

Aber der Zug des Lebens hat auch seinen Preis. Niemand kann in sein altes Abteil zurück. Niemand ändert die Regeln dieser Fahrt. Du bekommst deinen Platz für 365 Tage zur Verfügung gestellt. Dann musst du ein neues Abteil beziehen, dein Wagon wechseln, jemand anderes ist bereits da. Du kannst die Zeit darin nicht aufhalten, nicht verlängern , nicht überziehen. Nur genießen, bewusst erleben, 365 Tage lang, bis eines Tages alles vorbei ist. Das passiert an der Haltestelle oder mitten auf der Fahrt. Du weißt das nie. Jeder von uns hat seinen eigenen Fahrplan…

Ich muss dabei immer mit der Wehmut kämpfen. Der Gedanke, dass wir alle im Nichts verschwinden, dass nichts von uns in dieser Welt übrigbleibt, ist immer da. Er ist wie ein Splitter in dem verwundeten Fleisch. Es tut weh und es schreit. Es schreit gewaltig. Wie schafft man es weiter in Harmonie zu leben, wenn die Uhr in uns drin rückwärts tickt? Diese Option einer bevorstehenden Auslöschung, nicht jetzt, nicht sofort, aber irgendwann mal, in Zukunft ist so widerlich und absurd. Vor allem dann, wenn die Natur so schön wie jetzt ist und man diese Fahrt und den Zug zu schätzen beginnt. Ich beneide die Menschen, die sich aus diesem Konflikt befreit haben. Die Seele des Menschen ist ein unruhiges Bienennest.
Inzwischen wäre ich froh, wenn der Zug des Lebens nicht so schnell fahren würde und sehe mir deshalb die Landschaft und die Menschen aus dem Zug genau an. Nicht so flüchtig, nicht so oberflächlich. Nicht so leichtsinnig, wie damals. Das Leben ist kurz, genau wie diese Fahrt. Auch dieser Zug ist nicht endlos. Kaum hat man sich umgedreht, ist das Jahr bereits um und man sitzt in einem neuen Wagon.

Ich kann den Lauf der Zeit nicht aufhalten, höchstens nur anders sein, bewusster leben. Mich wenig ärgern und die Routine genießen, weil all das eines Tages vorbei ist. Der Geschmack eines frischen Kaffees, das angenehme Gefühl eines Hemdes auf der Haut, die tagtägliche Fahrt zur Arbeit mit der U-Bahn.

Und der Zug des Lebens rollt. Er ist jetzt schnell. Verdammt schnell. Ich sehe schon eine neue Haltestelle in Kürze kommen und fühle mich von Wut und Hilfslosigkeit erfasst. Diese Reise ist noch nicht vorbei. Ich habe noch jede Menge Zeit, viel Zeit, so Gott es will. Trotzdem ziehe ich es lieber vor, in meinem alten Waggon zu bleiben, meine Freunde und Liebsten bei mir für immer zu behalten, mich an die Türen des Zuges festzuklammern und voller Verzweiflung in die Ferne zu schreien: Halt nicht an, Zug! Halt nicht an, Zug! Ich will niemals aussteigen!



Ende.
Roman Dell

13.10.2013- 09.02.2014
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Die Sommergeschichte:

Es ist unmöglich in Gelsenkirchen zu leben und sich nicht dafür zu interessieren. Man kommt an dem Thema einfach nicht vorbei. Irgendwann mal kommt jeder damit in Berührung, denn Fußball und Schalke gehören zu Gelsenkirchen. Bei mir hat es zwar etwas länger gedauert, bis ich mich von Fußball und Schalke anstecken ließ, aber nun ist es endlich vollbracht. Ich schenke euch diese Fußball- Geschichte.

[center]Wenn Götter spielen….
…hört das Leben in Deutschland auf.

-Deutsche und Fußball-
(Erzählung) [/center]

Die Faszination des Fußballs lässt sich leicht erleben,
schwer beschreiben und unmöglich erklären.

Andreas Tenzer (*1954), deutscher Philosoph und Pädagoge*

[center]XXX[/center]

Wenn Götter spielen, hört das Leben in Deutschland auf… Allerdings sind damit nicht die geselligen Männchen und Weibchen gemeint, die in der griechischen Mythologie auf dem höchsten Berg Hellas Olymp wohnen und ihre Zeit beim Würfelspiel und Intrigen vertreiben, sondern die heutigen Fußballstars.
In der Tat. Der Kampf um das „runde Leder“ genießt in der Bundesrepublik eine wahrhaft „göttliche“ Verehrung. Wenn es um den Fußball geht, drücken die sonst noch so strengen und prinzipientreuen Deutschen ausnahmsweise ein (und manchmal sogar beide) Auge zu und verzichten für diese Zeit halbwegs auf ihre Heiligtümer: Ordnung und Vorschriften, wie bei der letzten WM zum Beispiel.
So wurde den Arbeitnehmern damals gestattet, an den Tagen, an denen die deutsche Nationalmannschaft in Brasilien spielte, ein Radio oder Fernsehgerät zur Arbeit mitzubringen, wenn sie während der Übertragungszeit noch im Dienst waren. Vorausgesetzt, dass dies nicht den reibungslosen Ablauf im Betrieb störte. Ziemlich großzügig… und ein richtiger Tabubruch, finde ich. Und bei allen anderen Anlässen sonst völlig UNMÖGLICH und absolut UNVORSTELLBAR. Nur nicht, wenn es um den Fußball geht.
Selbst im Zug oder in der Straßenbahn gab’s während der Übertragung eine Ansage vom Lokführer, der die Fahrgäste und die Reisenden über den Verlauf der Spiele und die Erfolge der Nationalmannschaft auf dem Laufenden hielt. Die WM 2014 hat uns alle in Rausch versetzt. Ganz Deutschland schmückte sich über Nacht mit Schwarz-Rot-Gold- Fahnen und die Brauereien meldeten einen 10-fachen Umsatz. Der Lederball ließ wirklich niemanden gleichgültig. Selbst Menschen, die sich sonst nie für Fußball interessierten, (meine Wenigkeit miteingeschlossen) saßen plötzlich wie besessen vor dem Bildschirm und drückten Deutschland die Daumen
Und wie groß war dann die Freude, als wir plötzlich Sieger der WM wurden und dazu noch die Götter des Fußballs - Brasilianer und Argentinier geschlagen haben . Ein Wunder, das man bis dahin kaum für möglich gehalten hatte.
Der überraschende Sieg der Deutschen weckte in mir längst vergessene Bilder von dem Tag, an dem ich schon einmal Zeuge eines solchen Triumphes gewesen war. Dabei musste ich nur die Augen schließen und an einen bestimmten Sonntag in Juli denken…den 8. Juli 1990.

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Als Deutschland das letzte Mal die Fußballweltmeisterschaft in Rom gewann, war ich gerade zwölfeinhalb Jahre, lebte in der Sowjetunion und verfolgte das Geschehen auf dem Bildschirm meines alten Horizont-Fernsehers. Dort lieferte sich die deutsche Mannschaft gerade ein nervenzerreißendes Duell mit dem Team aus Argentiniern. Dabei galt mein Interesse weniger dem Fußball selbst, als meiner historischen Heimat, über die ich alles zu wissen wünschte, seit ich von meinen deutschen Wurzeln erfahren hatte.
Der Fußball genoss auch in der UdSSR, eine beträchtliche Anerkennung, wobei die größte Leidenschaft der Russen nach wie vor das Hockey bleibt. Nichtsdestotrotz wurde auch bei uns überall viel und leidenschaftlich gekickt: auf dem Spielplatz, auf dem Schulhof oder einfach zu Hause, direkt vor der Tür.
Auch der Autor dieser Zeilen musste sich dem Gruppenzwang beugen und als Innenverteidiger regelmäßig „mitmachen“, was weniger meinem Talent als Kicker (fußballtechnisch bin ich selbst heute noch eine richtige Niete), sondern vielmehr meiner kräftigen Statur zu verdanken war. Ich hielt mich die meiste Zeit in der Nähe des Tores und wartete auf die Gegner. Sobald ein feindlicher Stürmer sich unserem Netz näherte, stürzte ich mich auf ihn und machte den „Eindringling“ mit meiner Masse… einfach platt.
Der Fußball-Gott meiner Kindheit hieß in der UdSSR… nein, nicht Pele, und auch kein Franz Beckenbauer…, sondern Diego Maradona. Viele sowjetische Jungs kritzelten mit dem Filzstift seine Rückennummer 10 auf ihrem weißen T-Shirt, wohl wissend, dass man damit das Missfallen der eigenen Eltern erregte, die auf Grund des ewigen Warenmangels in unserem Land für dieses T-Shirt etliche Stunden in der Warteschlange vor dem Kaufhaus verbringen müssten, ohne jegliche Garantie, am Ende doch noch eins zu bekommen und deshalb über das ruinierte Oberteil ihres Sprösslings alles andere als „erfreut“ waren.
Das richtige Fußballtrikot war der Traum jedes sowjetischen Kindes und meist nur für die Mitglieder eines staatlichen Fußballvereins. Wer nicht das Talent und das Glück besaß, als „junge Sport-Hoffnung und Zukunft der Sowjetunion“ in einen Kinder- oder Jugendfußballverein aufgenommen und gefördert zu werden, musste, ähnlich wie wir, mit dem Filzstift „improvisieren“ und in dem „selbstgemachten“ Trikot jubelnd durch die Gegend rasen, sehr zum Ärger von Erwachsenen und Autobesitzern in unserem Haus, die allesamt um ihre Fenster und Autoscheiben fürchteten.
Als einer der größten und zähsten Sportrivalen der Sowjetunion in dieser Zeit ist mir bis heute die Nationalmannschaft von Kamerun in Erinnerung geblieben, der die Sowjetunion auf dem Spielfeld häufig unterlag. Obwohl der sowjetische Fußballverband an die fünfzig großen Fußballclubs und Vereine wie SPARTAK, DINAMO, ZSKA, LOKOMOTIVE oder ZENIT zählte, Geld und Menschenressourcen im Überfluss hatte und nahezu jede Teilrepublik in der UdSSR eine oder mehrere Nationalmannschaften unterhielt, sind die Russen nur selten außerhalb des sozialistischen Lagers international groß rausgekommen. Und selbst dann, höchstens bis ins Viertelfinale, was ich persönlich sehr bedauerlich fand, auch an diesem Sonntag in Juli.
Da die sowjetische Nationalmannschaft bereits gegen Argentinien verloren hatte und inzwischen nach Moskau abgereist war, konnte ich ohne schlechtes Gewissen jetzt für Deutschland „fiebern“. Ich schaute mir die goldblonden Köpfe der Deutschen auf dem Bildschirm an, fasziniert von dem Gedanken, dass ein Teil von mir auch von diesem Volk stammte. Manchmal hat eine Mischehe schon ihre praktischen Vorteile. Beim Fußball zum Beispiel, indem man für zwei (statt nur für eine) Nationalmannschaften mitfiebern kann.
Nachdem die „Unsrigen“ jetzt verloren hatten, wünschte ich mir, dass die Deutschen die Niederlage der Russen „rächen“ und die Südamerikaner für ihre Arroganz bestrafen. Aber die beiden Mannschaften passten gut auf und kämpften erbittert um das Tor. Niemand von ihnen gewann die Oberhand. Als man irgendwann mal mit dem Elfmeterschießen begann, sah ich bereits schwarz für die Deutschen … und dann schoss Andreas Brehme Deutschland in den Sieg. Zweifelsohne, die zweitgrößte Sensation in diesem Jahrzehnt, nach der historischen Wiedervereinigung Deutschlands.
Bis dahin hatte ich die Bundesrepublik niemals für eine Fußballnation gehalten und auch nicht geahnt, welche wahnsinnige Beliebtheit diese Sportart hierzulande genießt. Ich konnte Deutschland mit allem auf der Welt in Verbindung bringen: mit besten Autos, mit Tennis-Legenden wie Boris Becker oder Steffi Graf, mit Modern Talking, Claudia Schiffer und Michael Schumacher, mit Hansa-Seebund oder Gutenbergs Buchdruckerfindung. Nur niemals mit dem Fußball.
Alles was ich über den Fußball in Deutschland wusste, war nur, dass es dort, genau wie bei uns, auch ein paar Clubs gibt. Der Grund für diese Annahme, war der blaue Vereinswimpel, den mein Vater eines Tages von seiner Dienstreise aus Gelsenkirchen nach Hause gebracht hatte, zusammen mit dem Poster einer Fußballmannschaft im blauen Trikot, der mit ihren Autogrammen „bestückt“ war. Beides nahm bei uns seinen verdienten Ehrenplatz an der Wand ein, wie fast alle Dinge und Gegenstände, die aus Deutschland kamen.
Damals wurde mir nicht bewusst, welche berühmte Mannschaft auf dem Poster abgebildet war und wieviel der Fußball den Deutschen tatsächlich bedeutet. Das änderte sich rasch, als meine Familie nach Gelsenkirchen zog. Hier erfuhr ich, dass Fußballspieler und Fußballvereine in Deutschland wie Götter behandelt werden und der Name jenes Gottes im Ruhrgebiet…SCHALKE war.

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Als ich zum ersten Mal Zeuge eines Fußballspiels in unserer Stadt wurde, lebte meine Familie bereits seit zwei Jahren in Deutschland, aber nur wenige Monate davon in Gelsenkirchen. Dieses Ereignis blieb für immer in meiner Erinnerung. Ich kam abends mit dem letzten Zug aus Hilchenbach an und habe meine Stadt nicht mehr wiedererkannt. Ganz Gelsenkirchen glich einem riesigen Wespennest, in den man versehentlich reingestochen hatte. Die U-Bahn-Station und der Hauptbahnhof waren voller Männer und Frauen mit blauweißen Schals, T-Shirts und Hüten. Sie tranken Bier und grölten etwas Unverständliches, womöglich ein Lied, von dem ich aber nur die letzten zwei Wörter „Hurensöhne“ und „Hoho“ verstand.
Ihr kreischendes Stimmengewirr löste bei mir biblische Bilder eines Babylonischen Durcheinanders im Kopf. Dauernd kamen neue Menschen dazu, in Bussen, Zügen oder eigenen Autos und verteilten sich rasch in den Kneipen, Bierständen und Straßen der Stadt. An fast jeder Ecke standen Polizei und Rote-Kreuz-Wagen als würde gleich ein Krieg ausbrechen. Das war beindruckend und erschreckend.
Ich hatte bis dahin noch nie so viele Gesetzeshüter auf einem Quadratmeter Fläche gesehen, die in dem Straßenbild Deutschlands sonst immer unsichtbar blieben und im Hintergrund agierten. Man wusste nur, dass es sie gibt. Heute sah man sie auch.
Diese hochgewachsenen Männer und Frauen in grünen Schutzanzügen mit Polsterschutz und schwarzen Handschuhen waren nicht zu übersehen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre kräftigen Gestalten ragten wie mythische griechische Titanen über die Köpfe der übrigen Menschen: erhaben und beeindruckend.
Einige Haupt- und Nebenstraßen wurden bereits abgesperrt. Ein Verkehrspolizist auf dem Motorrad regelte den endlosen Strom der hupenden Autos, die sich allesamt in Richtung Parkstadion bewegten und gar nicht aufhören wollte An den Rückspiegeln der vieler Fahrzeuge sah man weitere blauweiße Schals und Fahnen im Wind flattern. Die wenigen Passanten und Fußgänger, wie ich, verloren sich optisch in dieser brodelnden blauweißen Masse von Menschen, die wie die glühende Lava eines ausgebrochenen Vulkans jede freie Fläche, jeden Platz, jede Gasse in dieser Stadt überfluteten und verschluckten.
-Schalke! Schalke! Schalke! -skandierten die Stimmen. Es roch nach Bier, und Schweiß. Vor den öffentlichen Toiletten bildete sich eine große Warteschlange. Der übermäßige Bierkonsum machte sich spätestens jetzt, bei der Novemberkälte, mehr als schmerzlich bemerkbar. Das schlug nicht nur auf die Blase, sondern auch auf die Stimmung. Männer und Frauen stritten sich und tauschten gegenseitig Sticheleien aus. Hier und da kam es zu kurzen Reibereien mit anderen Menschen, die ebenfalls Hüte, Schals und T-Shirts trugen, allerdings… in der giftigen schwarzgelben Farbe. Die traditionell bestehende Rivalität zwischen Schalke und BVB war für mich damals noch kein Begriff.
Meine U-Bahn kam nicht. Dafür trafen alle 5 Minuten Fahrzeuge mit dem Schild „Einsatzwagen“ ein. Sie spuckten neue Scharen von Menschen aus ihren Bäuchen und nahmen sofort wieder neue Fahrgäste mit. Sie fuhren alle in Richtung Parkstadion. Der Fahrtplan wurde, wie bei jedem Spiel geändert und viele Sonderfahrten eingesetzt. Das wusste ich damals ebenfalls nicht und stand ratlos auf der U-Bahn-Station.
Als meine Bahn auch später immer noch nicht in Sicht war, fing ich langsam an mir Sorgen zu machen. Was hatten dieses Chaos, die immense Polizeipräsenz und die grölenden blauen Männchen hier überhaupt zu bedeuten? Und wo zum Teufel blieb meine verdammte U-Bahn? Die ganze Stadt war im Ausnahmezustand. Was war los? Würde ich heute überhaupt nach Hause kommen?
Mit dieser Frage wandte ich mich an einen Polizeibeamten, der die Menschen auf dem Bahnhofvorplatz hinter und vor der Absperrung zum Ausgang in die Innenstadt rein und raus ließ.

- Wissen Sie wirklich nicht Bescheid? – seine Stimme klang empört und erstaunt.- Heute ist Freitag, das Bundesligaspiel, Schalke 04 gegen Borussia Dortmund. Das halbe Ruhrgebiet ist jetzt gerade hier.

Jetzt war ich an der Reihe mich zu wundern. In Schachty, meiner Geburt und (vor gar nicht so langer Zeit auch) Heimatstadt, gab es ebenfalls ein Sportstadion, aber wenn unsere Mannschaft Schachteur (deutsch: Bergmann) dort ein Heimspiel gab, blieb die Hälfte der Plätze meistens leer. Es war ein Sport aber kein Gesellschaftsereignis, wie jetzt hier, in Gelsenkirchen. Zumindest nicht in dieser Größenordnung. Eine Straßensperre, solche gigantischen Mengen Fans, dieses Gedränge und diese Aufregung hat es bei uns nie gegeben. Auch kann ich mich nicht daran erinnern, dass es rund um den Fußball in der UdSSR so etwas wie Fan-Artikel und Souvenirs gab. Vielleicht in Leningrad oder in Moskau, aber sicher nicht in Schachty. All diese T-Shirts, Schals, Fahnen und Hüte. Das habe ich erst hier, in Deutschland gesehen.
Dass ein Fußballspiel in Deutschland eine ganze Stadt lahmlegt und das wichtigste Highlight der Woche ist, war mir auch völlig neu und passte überhaupt nicht in mein bisheriges Deutschland-Bild. In den Köpfen der Russen existierten die Deutschen als eine fleißige aber steife und pedantische Nation, die nur wenig für Gefühlsausbrüche und Leidenschaft übrig hat, während der Fußball genau von diesem Temperament und Herzblut lebt. Wenn wir drüben vom Fußball sprachen, hatten wir deshalb immer Spanien, Italien, Argentinien oder Brasilien gemeint. Länder die gefühlsmäßig eher als Deutschland zum Fußball passten. Die Bundesrepublik als eine Fußballnation? Das erschien uns damals einfach undenkbar und unmöglich. Aber das Leben ist der beste Lehrmeister. Man wir immer eines Besseren gelehrt, vorausgesetzt man ist bereit etwas Neues dazu zu lernen. Ich hatte meine Lektion gerade hinter mir.
Dann kam endlich meine Bahn. Sie war menschenleer und fuhr in Richtung Horster Straße, wo meine Familie bereits seit einer Stunde auf mich wartete. Ich stieg ein und ließ mich mit wenigen anderen Fahrgästen, die nicht zum Fußballspiel wollten, erschöpft in den Sitz fallen. Der Wagon setzte sich schleichend in Bewegung. Ich saß da und blickte verzaubert auf das überfüllte Bahngleis zurück, das jetzt langsam im Tunnel verschwand und wo ich gerade einem „anderen“ Deutschland- begegnet war. Warum einem anderen? - möchte der Leser an dieser Stelle womöglich wissen. Nun, das ist ganz einfach. An jenem Abend lernte ich die Narrenliebe der Deutschen zum Fußball kennen…

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Inzwischen weiß ich, dass Deutschland und Fußball unzertrennlich sind. Diese nass geschwitzten athletische Typen in bunten Trikots, die jede Woche in einem oder anderem Bundesland das Fußballfeld betreten, sind die Helden unserer Zeit und werden überall wie Götter und Idole behandelt. Dabei war es zunächst ein verachtetes Spiel der „Inselaffen“, das Konrad Koch, ein Gymnasiallehrer, bei seiner Rückkehr aus England nach Deutschland, zuerst in Braunschweig (und dann im ganzen Kaiserreich) bekannt und beliebt machte. Das war im Jahre 1874. Ein mühsames Unterfangen, das verrate ich euch, bei dem er mehr ideologische Vorbehalte als fremde Mannschaften aus dem Feld räumen musste, weil das „Engländer-Spiel“ den Deutschen einfach suspekt war. Aber wer erinnert sich heute noch an diese Zeit? Heute ist Fußball- unser Leben!
Dem Beweis dafür begegnet man überall. Man sieht täglich Menschen und Kinder jeden Alters auf den deutschen Straßen, die sich zum Fußballtraining in ihrer Gemeinde beeilen. Auch gehört dem Fußball die beste Sendezeit im TV. Zeitungen und Zeitschriften widmen dieser Sportart mehrere Seiten. Hier werden die Menschen in einer Fernsehen-Quizshow bei der Frage „Wie hieß der zweite Kanzler von BRD?“ zum Joker greifen, aber dafür alle Spiele und Ergebnisse der Saison 1953 aus dem Stand benennen. Es gibt Fußballkneipen, Souvenirläden, Bücher und Filme zu diesem Thema, alles was ein Fußballherz sich nur wünscht und begehrt.
Für Gelsenkirchen spielt der Fußball sowieso eine besondere Rolle. Das ist das Wahrzeichen der Stadt und das Herz einer ganzen Region. Alles in dieser Stadt dreht sich… irgendwie um Fußball. Schalke und Gelsenkirchen. Das gehört einfach zusammen. Man kann sich das eine ohne das andere gar nicht vorstellen. Gelsenkirchen ist nicht nur Schalke, aber Schalke ist Gelsenkirchen. Das hat man hier einfach im Blut. Selbst die Arbeitswoche beginnt man hier oft mit dem Satz „Na, wie war es gestern auf Schalke, statt Guten Morgen?“ In fast jedem Büro, Handwerkerauto oder Werksgebäude hängen Plakate und Wimpel dieser Mannschaft. Und wenn Schalke daheim spielt, füllt sich das Stadion rasch mit königsblauer Farbe und ganze Straßenzüge wirken auf einmal menschenleer und wie leergefegt. Man ist entweder in der Arena oder vor dem Fernsehen. Für eine Stadt, in der es den Ernst-Kuzzora-Weg und die Schalker Meile gibt und man auf Schalke sogar heiraten könnte, ist Fußball nicht nur irgendeine Sportart. Er ist unser Stolz und unser Leben.
Und wenn es in der Stadt der 1000 Lichter wieder still und leer werden soll te, würde ich mir keine Sorgen mehr machen, weil ich jetzt weiß, was da geschieht. Wenn Götter spielen hört das Leben in Deutschland auf…Insbesondere in Gelsenkirchen.

Ende

Roman Dell
16.08.2014-01.03.2015

Quellen:
http://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Fu%C3%9Fball
http://www.sprachnudel.de/tag/fu%DFball
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Beitrag von brucki »

Schonmal zum Vormerken:
Deutschland-k(ein) Wintermärchen

Autorenlesung mit Roman Dell

Mittwoch,14.12.2016, 19.00 Uhr

Ort: Kulturraum „die flora“, Florastraße 26, 45879 Gelsenkirchen

Teilnahme kostenlos


Roman Dell, Jahrgang 1978 und gebürtig aus Schachty (Russland), lebt seit 1995 in Gelsenkirchen. Er stimmt uns mit drei seiner Geschichten auf die Weihnachtszeit ein.

Eine Veranstaltung des Heimatbund Gelsenkirchen

www.hb-gelsenkirchen.de

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Beitrag von Lupo Curtius »

Neues von Roman Dell:

Vorwort
Kaum ein deutscher Brauch ist im Ausland so beliebt und so bekannt, wie das Bayerische Oktoberfest. Inzwischen, haben auch viele Nicht- Bayer und sogar Ruhr-Potter ihre Freude und Spaß an dem lustigen Exportschlager aus dem Alpenland entdeckt und sind voll davon überzeugt, dass das Oktoberfest auf jeden Fall… zu Deutschland gehört.
Auch bei mir zählt German Beer Festival bis heute zum unvergesslichen Highlight meines Lebens. Genau genommen war dies die Reise selbst, die ich in den Zeiten des Oktoberfestes mit einem Nachtzug nach Bayern unternahm. Hier ist meine neuste Geschichte

[center]Viva Bavaria

oder

warum nach München fahren - Oktoberfest ist überall

Erzählung[/center]

  • "Ein starkes Bier, beizender Toback, und eine Magd im Putz, das ist nun mein Geschmack"

    Johann Wolfgang von Goethe
[center]
XXX

[/center]
"Ein starkes Bier, beizender Toback und eine Magd im Putz, das ist nun mein Geschmack" – soll Goethe einmal seinem Freund Schiller im Stillen anvertraut haben. So die Legende. Über Geschmäcker lässt sich bekanntlich nicht streiten. Soll man auch nicht. Besonders mit Goethe. Mit seinem Geschmack steht der große Dichter und Patriarch der deutschen Literatur, (der wie es scheint ein großer Fan von bayerischen Mädchen, Bier und Oktoberfest war), keineswegs allein da. Rund sechs Millionen Menschen weltweit lieben dasselbe. Kaum ein deutscher Brauch ist im Ausland so beliebt und so bekannt, wie das Bayerische Oktoberfest, auch wenn manch ein Deutscher an dieser Stelle nur fassungslos den Kopf schüttelt und sich immer wieder gereizt fragt, was diesen selbstgefälligen Stamm in Ledertracht und seine komischen Trinksitten, bitte schön, mit der Kulturnation Deutschland verbindet?

Ich sage da nur, Pech gehabt, Freunde! Ihr könnt die Lederhosenträger mögen oder nicht mögen, sie als Landeier oder Hinterwäldler beschimpfen und euch weiterhin gerne über ihre Sprache und ihre Bräuche amüsieren, aber ihr könnt auf keinen Fall die Bayern ignorieren. Das bringt nichts. Überhaupt nichts. Im Rest der Welt wird Bayern geliebt und als „Old Classic Germany“ gefeiert, ob es euch passt oder nicht. Ihr solltet euch endlich damit abfinden und zwar je schneller desto besser.

Inzwischen haben auch viele Nicht- Bayern ihre Freude und ihren Spaß an dem lustigen Exportschlager aus dem Alpenland entdeckt und sind voll davon überzeugt, dass das Oktoberfest auf jeden Fall… zu Deutschland gehört. Eine Meinung, die ich auch inbrünstig teile.

Der Mauerfall hat Deutschland vereint… Das Oktoberfest tut das auch! Möchte ich jetzt einfach dreist behaupten, aber vielleicht habe ich mich diesmal doch ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt. Eines lässt sich jedoch wirklich nicht abstreiten, dass dem lustigen Bayern etwas gelungen ist, woran viele vor ihm gescheitert sind: nämlich, die Sachsen, Schwaben, Franken, Preußen, Rheinländer, Friesen (und noch ein Dutzend anderer germanischen Stämme) dazu zu bringen, ihre jahrhundertalten Vorbehalte und ihren Zank zu vergessen und in einem Bierzelt als eine DEUTSCHE NATION gemeinsam zu feiern. Ganze 4 Wochen lang! Dann wird wieder gestritten und gehetzt, was das Zeug hält. Der Preuße gegen den Sachsen, der Ossi gegen den Wessi und alle gemeinsam… gegen die Bayern. Wen denn sonst natürlich! So sind wir, Deutsche. Wir können und wollen es nicht anders.

So richtig „unter sich“ ist man als Deutscher auf dem Oktoberfest übrigens auch nicht mehr. Das größte Volksfest der Erde mit eigenen Augen zu sehen und dabei ein Maß „Helles“ zu trinken ist einem arbeitswütigen Japaner fünf von zehn Tagen seines gesamten Jahresurlaubs wert. Der Australier nimmt dafür sogar den monströsen 24-Stunden-Flug in Kauf. Selbst für den Big Brother, der es mit der Kultur und der Geografie der anderen Völker traditionell nicht so genau nimmt, ist „German Beer Festival“ inzwischen ein Begriff. Und das soll bei den Amis schon etwas heißen! Auch Italiener, Briten, Niederländer, Tschechen, Polen und Russen geben alles dafür, um die prallen Mieder und die legendäre Kunstfertigkeit unserer Bierköniginnen bewundern zu dürfen, wenn diese Wallküren im Dirndl mit Dutzend Bierkrügen auf den Brüsten über die Wiesn huschen. Ein Fest für das Auge! Das schwöre ich euch.

Was mich betrifft, so zählt das Oktoberfest bis heute zum unvergesslichen Highlight meines Lebens. Genau genommen war dies die Reise selbst, die ich in den Zeiten des Oktoberfestes mit einem Nachtzug nach Bayern unternahm. Damals hatte ich gerade meine künftige Ehefrau Svetlana kennengelernt, (eine blutjunge Moskowiterin, die wie ein Modell aussah- aber keins war) und beschloss auf der Stelle meiner „Flamme“ nach München zu folgen, wo sie in Kürze ihr Studium beginnen wollte. Bis dahin wusste ich kaum etwas über das Oktoberfest, geschweige denn, was man sich darunter vorstellen sollte. Mein gesamtes Wissen dazu stammte aus insgesamt drei Quellen, von denen nur eine wirklich vertrauenswürdig war. Aber alles der Reihe nach.

Meine allererste Begegnung mit dem Oktoberfest begann mit einem Satz, den ich als Jugendlicher in einer Arnold Schwarzenegger-Biographie entdeckte, die mein Vater mir von seiner letzten Dienstreise nach Moskau mitgebracht hatte. Dort behauptete die Skandalreporterin Wendy Leigh, dass Arnie als junger Mensch ein richtiger Raufbold war und seine Fäuste auf dem Oktoberfest schwingen ließ, als er, der künftige Terminator, in München lebte und trainierte, bevor seine Filmkarriere in den USA überhaupt begann. Dieser beiläufige Satz sorgte dafür, dass das Oktoberfest bei mir für immer in Erinnerung blieb.

Dann waren da noch die Berge von Illustrierten, die ich von den Freunden meines Vaters regelmäßig zu lesen bekam. Komplette Jahrgänge von Gala, Brigitte, Bunte, Freizeit Revue, Bild der Frau oder Das Goldene Blatt, die mir beim Erlernen der deutschen Sprache helfen sollten. Sie zeigten männliche und weibliche Prominente in bayerischer Tracht, wie diese auf der Wiesn genüsslich Bier tranken, Small-Talk machten oder wild knutschten… und somit für neue Schlagzeilen und Gerüchte sorgten.

Als einzige verlässliche Quelle galt für mich das alte Buch aus der sowjetischen Schulbücherei, dessen vollständiger Titel Deutsche Lyrik des 18 Jahrhunderts nichts als pure Langweile und Frust versprach und alle Schüler vor mir abgeschreckt hatte. An den Inhalt des Buches erinnere ich mich nicht mehr. An seine schwarzweisen Bilder jedoch schon. Insbesondere an den einen Kupferstich, der einen älteren Mann mit seiner Frau auf der Wiesn zeigte. Darunter stand in gotischer Schrift klein geschrieben: ein deutsches Ehepaar in traditioneller Landestracht während des Oktoberfests. Ein geheimnisvoller Satz, der nicht allzu lange geheimnisvoll blieb, weil mein Vater ihn noch am selben Abend für mich übersetzte. Das war schon alles. Alles, was ich wusste.

Nach fast dreizehn Jahren in Deutschland blieb mein Wissen über das Oktoberfest immer noch auf demselben Stand. Zu meiner Schande und meinem Bedauern. Naiv wie ich bin, stellte ich mir das Oktoberfest wie etwas Außergewöhnliches vor, ein Mega-Spektakel, das alles, was ich in Deutschland bisher gesehen hatte, in den Schatten stellte und versprach mir jede Menge Spaß und Abenteuer davon. Auch hoffte ich dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Nämlich München, aber auch einige Prominente aus den Illustrierten live zu sehen. Modern Talking Star Dieter Bohlen oder Yvonne Catterfield zum Beispiel, wenn die sich unters Volk mischen.

An Spaß und Abenteuer sollte es mir in Bayern in der Tat nicht mangeln. Schon die Fahrt nach München begann wie eine Szene in einem Komödienfilm. Mein Nachtzug kam direkt aus Amsterdam und platzte aus allen Nähten. Jeder Zentimeter dort war mit lustigen Holländern belegt, die allesamt zum Oktoberfest wollten… und jetzt schon fleißig „übten“. Sie tranken Bier und grölten komische Lieder, die sich fast schon wie Deutsch anhörten, wenn man da vorher nicht ä, ö und ü-Umlaut entfernt hätte. Wer also meint, Deutsch wäre ein Zungenbrecher hat noch nie die „holandise spracke“ live gehört. Ich verrate euch etwas …Nur arabisch und chinesisch sind schlimmer.

Mein Sitznachbar - ein junger Mann mit kölschem Akzent und strubbeliger Frisur wollte ebenfalls dem Beispiel der Holländer folgen und ein wenig feiern, wenn auch ziemlich bescheiden. Er holte gerade eine kalte Bierdose aus dem Rucksack raus…
Als der Schaffner gegen Mitternacht auftauchte, hatte er keine Chance, seine Arbeit ordentlich zu verrichten. Der schmale Gang im Zug ähnelte einem verlassenen Schlachtfeld…, das jetzt mit Dutzenden „Alkoholleichen“ gepflastert war. Die betrunkenen „Oranier“ lagen wie die Römer im Teutoburger Wald, kreuz und quer, auf dem Boden und gaben keinen Laut mehr von sich. Das Oktoberfest ließ grüßen.

Nur einer von ihnen schien die moralische Grundhaltung eines gesetzestreuen Europäers nicht gänzlich im Alkohol ertränkt zu haben und ließ die Fahrkarte rücksichtsvoll in der Gesäßtasche stecken, die inzwischen ein fetter schwarzer Fußabdruck seiner Kameraden „schmückte“, die hin und wieder aufs Klo mussten. Völlig umsonst, wie wir gleich feststellten sollten. Denn der Schaffner gab auf und kehrte um.

Doch nicht alle Fahrgäste im Zug ließen sich von der ausgelassenen Stimmung und Freude des Oktoberfests anstecken, wie der rundliche Herr zum Beispiel, auf den die Beschreibung „der preußische Beamte ist eine Ehre aber kein Vergnügen“ zutraf. Der „Spaßverderber“ warf dem jungen Mann missbilligende und empörte Blicke zu, sobald dieser einen Schluck von seinem Bier nahm und machte aus Angst um sein Gepäck kein Auge zu. Ein komischer Typ. Wohl nicht der einzige in dieser Nacht, die mir so lang wie ein Leben erschienen ist.
Als wir am frühen Morgen München Hauptbahnhof erreichten, war meine literarische „Sparbüchse“ bereits voll von diversen Lebensgeschichten, die mir jeder zugestiegene Gast hier, warum auch immer, anvertraute: von der traurigen Greisin, die von ihrem Ehemann verlassen worden war bis zum fröhlichen Kaufmann, der mir von seiner Geschäftsreise nach Amerika vorschwärmte. Alles dabei.

In Bayern angekommen, konnte ich auf einmal nicht mehr das Gefühl loswerden, mich plötzlich im Ausland zu befinden, mit dem Unterschied, dass alle Bewohner hier Deutsch sprachen und verstanden… jedoch nur, wenn sie es wirklich wollten. Auch musste ich mein bisheriges Oktoberfest-Bild aus dem sowjetischen Schulbuch ein wenig korrigieren. Nicht jeder Münchener oder Münchenerin hier sah aus wie das alte deutsche Paar auf dem Kupferbild. Auch zählte das Dirndl vor Ort keineswegs zu einer „Pflicht“. Dennoch war es überall zu sehen und präsent. Ja, die „Mägde in Pütz“ bekam ich hier reichlich zu Gesicht. Und was für welche!

Was man auf den Straßen im Ruhrgebiet sonst nur zur Karnevalszeit sah, schien in München ein fester Bestandteil des Lokalkolorits zu sein: Ein teutsches Mädel in einem teutschen Kleid. Sehr zur Freude von männlichen Besuchern, die vom Anblick der stattlichen Bayerinnen in engen Miedern und hübschen Röckchen, statt Sweatshirt und Jeans, nicht genug bekommen konnten.

- „Diese bescheuerten Bayern mit ihren Dirndln und Traditionen! Das ist doch voll kitschig und ziemlich übertrieben!“- würde jetzt einer von euch sagen. Ich halte das Dirndl dagegen für eine schöne Erfindung. Und praktisch ist das Ding übrigens auch noch. Es rettet jede noch so vor Fastfood verunstaltete Figur und lässt die Makel wie Vorteile aussehen. Kitsch hin oder her.

Je länger ich durch die Straßen Münchens schlenderte, umso mehr fühlte ich mich von dieser malerischen Stadt und ihren selbstbewussten Bewohnern fasziniert, die es tatsächlich fertigbrachten, aus der eigenen Existenz und Lebensart, einen echten Kult und Verkaufsschlager zu machen und dem Rest der Menschheit damit geschickt den Kopf zu verdrehen, meine Wenigkeit miteingeschlossen. Ein Geschäftsmodell, das seinesgleichen auf der Welt sucht.

Es war fast unmöglich der idyllischen Schönheit dieses Erdfleckchens zu widerstehen. Mir gefiel Bayern mit seinen niedlichen Souvenirläden und deren freundlichen Besitzern, die für eine Handvoll Münzen jedem Fremden die schönsten Erinnerungen an ihr Land in buntes Geschenkpapier einwickelten.

Und wenn man vor den prächtig geschmückten Schaufenstern der Modehäuser stand, die die bayerische Landestracht in jeder Größe und Preislage zum Kauf anboten, fühlte man sich jedes Mal in die Haut eines Wanderers versetzt, der das Mittelalter mit der Zeitmaschine bereiste. Ganz zu schweigen von den verführerischen Aromas der einheimischen Restaurants und Garküchen, die allesamt eine knusprige Schweinshaxe, leckeres Sauerkraut und das beste Oktoberfest-Bier der Welt, (dasselbe wie auf der Wiesn, nur viel günstiger) hochpriesen und versprachen. Hier drehte sich alles nur um die Bayern und ihre Sitten.

So unterschiedlich diese Läden und Lokale in ihrer Art, Größe und Sortiment auch sein mochten, hatten sie trotzdem etwas gemeinsam: die stille Botschaft, die sie ausstrahlten. Ihre schreienden Werbeslogans und Angebote bestärkten einen in dem Gefühl, sie seien nur als ein kleines Vorspiel für etwas Größeres gedacht, das der wahre Höhepunkt, die Krone des Ganzen war. Das Oktoberfest.

Als der Tag X dann endlich kam und wir uns mit Svetlana auf den Weg machten, war ich fest davon überzeugt, das Oktoberfest würde mich richtig umhauen. Doch es heißt nicht umsonst: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Und dieser ließ gerade tonnenweise Regenwasser auf die Theresienwiese knallen. Der Boden war matschig, die Luft kalt und unsere Laune TOTAL im Keller. Ich betrat das Feld und blieb erstarrt…

Statt eines versprochenen Wunders sah ich nur ein Riesenrad, eine Turmrutschbahn, ein Rundkarussell und andere Attraktionen auf dem Gelände verteilt, das riesengroß und voller sich tummelnden Menschen war. Diese ließen sich grob in drei Gruppen ordnen: jene, die sich gerade ein Getränk oder etwas zu kauen holten. Solche die danach unbedingt zur Toilette mussten und sich in der riesigen Warteschlange jetzt in Geduld übten. Und „Helden“, die unbedingt in den Hütten feiern wollten. Davon gab es 14 große und 15 kleinere. Die Warteschlangen dort waren die größten von allen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis man endlich drin war. Ich beneidete ihren Mut und Optimismus.

Ansonsten standen Besuchern wie ich, die weder Geduld noch Lust zu warten hatten, sämtliche Imbiss-Buden und Bierstände zur Auswahl. Dort bekam man seinen“ Speis und Trank“ auch ohne gigantische Wartezeiten.

Dabei stellte man fest, dass die Zeit des Multikultis und der Globalisierung inzwischen auch im konservativen Freistaat Bayern angekommen war. Und damit meine ich nicht Arbeitsmigranten oder Schwulengleichstellung, sondern deutsche Weißwurst, bayerischer Leberkäse, Bretzel, Leberknödelsuppe, Spätzle, Schweinshaxe und Sauerkraut, die hier mit ausländischen „Eindringlingen“ wie Pizza, polnische Krakauer-Wurst, chinesische Bandnudeln oder holländische Pommes konkurrieren mussten.

So hatte ich mir das Oktoberfest aber wirklich nicht vorgestellt! Wo blieb dieses Megaspektakel, das ich mir die ganze Zeit erhofft hatte? Was es hier zu sehen gab, war doch eher eine Art von Kirmes, wenn auch eine XXXL-Kirmes.
Dieter Bohlen und Yvonne Catterfeld bekam ich damals übrigens auch nicht zu Gesicht und musste mich am Ende mit einer 1-Meter-Wurst, Svetlanas Kuss und einem Maßkrug Bier trösten. Meine Promis feierten, (sofern sie überhaupt hier waren), ganz bestimmt in VIP-Festzelten.

Zurück in Gelsenkirchen musste ich meinen Frust und meine Enttäuschung sofort bei meinem guten Freund Meik loswerden, der mich dann auf den Boden der Realität zurückholte: „-Aber weshalb bist du denn so enttäuscht, Roman? So ganz falsch liegst du damit übrigens auch nicht. Das Oktoberfest war ursprünglich… eine Kirmes“- klärte er mich ruhig auf, als wir erneut mit der Bahn zusammen fuhren, während mein Gesicht dabei leicht verdutzte Züge annahm.

Eine kleine Recherche im Internet sorgte später für Klarheit. Danach wusste ich, dass das erste Oktoberfest… eine Feier zur Hochzeit von Kronprinz Ludwig und Prinzessin Theresie war, deren Name auch die Wiese trägt. Dabei sollte nicht nur der Adel, sondern auch das gemeine Volk sich bestens amüsieren. Zu diesen Zwecken ließ der junge König großzügig einen Vorrat an Wein und Bierfässer, aber auch das eine oder andere Fahrgerät aufstellen, wozu damals traditionell… das Karussell, die Schaukel oder der „Schichtl“ zählten. Na da haben wir es. Die Antwort darauf, weshalb Oktoberfest und Kirmes sich optisch so ähnlich sind. Und zwar bis heute.

Danach bekam ich sofort ein schlechtes Gewissen. Was konnten Bayern und das Oktoberfest für mein träumerisches Unwissen. Ich war an meiner Enttäuschung doch selber schuld. Damit konnte ich gut leben und bin seitdem ein Bayern-Freund.
Eines würde ich jetzt trotzdem nicht mehr machen. Nur wegen dem Oktoberfest nach München fahren. Warum auch? Inzwischen sind um das größte Volksfest der Erde so viele Mini-Oktoberfeste und Oktoberfestnachahmungen entstanden. Manche davon sogar im Ausland. Der erste Platz als „Raubkopierer“ geht natürlich an…China. Aber auch die Russen werfen jetzt gerne Bier statt Wodkagläser an die Wand, seit es in Moskau zahlreiche Bier-Restaurants nach deutscher Art wie „Bavarius Keller“ gibt, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wie Pilze aus dem Boden schossen. Unsere „kalten Freunde“ von damals finden „teutsche Mädels“ im „teutschen Kleid“ heute SEHR SCHÖN und SEHR GUT!
Aber auch in Deutschland und im Ruhrgebiet genießt das Oktoberfest inzwischen einen richtigen STARKULT. Selbst auf Schalke gibt es seit drei Jahren eine Oktoberfest-Nacht-Veranstaltung. Dort gibt es Bier, Schweinshaxe und Wiesn-Hits bis zum Abwinken. Ab 12 Euro aufwärts ist man dabei. Und der halbe Ruhrpott schunkelt mit.

Und wer es noch günstiger und bequemer haben möchte, braucht nur, so wie ich, zu Hause zu bleiben. Unser guter Metzger vor Ort macht auch dieses Jahr bestimmt eine Oktoberfest-Straßenparty. Dann stellt er wieder die Holztische und Sitzbänke raus, schmeißt seinen Grill an, legt Platten von dem guten alten DJ Ötzi auf und verteilt Sauerkraut und Weißwürste. Ich werde mir auch eine holen und dabei einen Maßkrug Helles trinken und mir genüsslich sagen: Viva Bavaria! Warum nach München fahren? Oktoberfest ist überall.

Ende
Roman Dell
01.10.2016-16.08.2016

Quellen:
http://muclomo.blogspot.de/2010/09/zita ... wiesn.html
http://www.oktoberfest.de/de/article/Da ... fests/621/
http://www.oktoberfest-live.de/wiesn/ch ... 05901.html
http://www.muenchen.de/veranstaltungen/oktoberfest.html
8)

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Wie fühlt es sich an, ein Deutscher zu sein? Und hat man dadurch einen gewissen Vorteil? Vermutlich normal und nichts Besonderes, wenn man ein Deutscher ist und in Deutschland lebt. Und nein. Man hat wirklich keinen Vorteil gegenüber den Anderen. Deutschland ist ein Rechtsstaat und nach dem Grundgesetzt ist jeder Mensch hier gleich. Aber was ist mit den anderen Ländern? Wie fühlt es sich da an, ein Deutscher zu sein, als solcher zu leben. Mein Vater kennt das zu gut. Das ist seine Geschichte.

[center]Der Vorteil Deutscher zu sein

Erzählung

XXX
[/center]
Wenn ich auf meine Kindheit in der Sowjetunion zurückblicke, fällt mir immer wieder eine Sache auf, nämlich, dass die deutsche Abstammung meines Vaters so gut wie nie ein Gesprächsthema in unserer Familie war. Er wahrte Stillschweigen darüber, bis ich eines Tages den Eintrag Deutscher in seinem Pass sah. Wir nahmen in der Schule gerade den Großen Vaterländischen Krieg durch… Meine Erschütterung kannte keine Grenzen. Abends stellte ich ihn zur Rede.
„Vater! Bis du wirklich ein Deutscher? Aber soviel ich weiß, leben die Deutschen in Deutschland und nicht in Russland? Wie ist denn so etwas überhaupt möglich? Und falls du doch ein Deutscher bist, falls, bin ich dann also auch einer? Das ist sehr wichtig für mich! Das musst du mir jetzt auf der Stelle erklären!“ überschüttete ich Papa mit tausend Fragen.
Mein nächtlicher „Überfall“ und das anschließende „Verhör“ schienen ihn nicht sonderlich zu überraschen. Vielmehr glaubte ich, dass er insgeheim damit rechnete, dass ich eines Tages mit dieser Frage zu ihm kommen würde und nahm unsere Unterhaltung deshalb ziemlich ernst. Es war das erste Mal, dass wir offen darüber sprachen.

An diesem Abend erteilte mein Vater mir einen kurzen Exkurs in die Geschichte und erklärte in aller Ruhe, wie es dazu kam, dass es in Russland Deutsche gibt. Und zwar schon seit mehr als zweihundert Jahren, als es Typen wie Hitler und das andere Pack noch gar nicht gab. Dafür aber Dürer, Goethe, Beethoven, Dellwig, Krusenstern und Bellingshausen. Und noch viele andere berühmte Deutsche und Russlanddeutsche. Dabei blieb sein Gesicht während der gesamten Unterredung nachdenklich und todernst. Er wählte seine Worte mit Bedacht, als hätte er Angst etwas Falsches zu sagen. Ein Verhalten, dass ich damals überhaupt nicht verstand.

Darin unterschieden wir uns kaum von den anderen Sowjetdeutschen, die durch den Krieg zu Volksfeinden erklärt worden waren und sich ebenfalls sehr zurückhaltend verhielten, obwohl ihr nichtslawischer Name sie ohnehin als „Germanen“ verriet.

Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Auswanderung nach Deutschland, „taute“ mein Vater allmählich auf und rückte nach und nach mit der Sprache raus. Meist an Geburtstagen oder Feiertagen wie Ostern und Weihnachten, wenn die gesamte Familie am festlich gedeckten Tisch zusammensaß. Nach dem obligatorischen Festmahl - dampfender Borschtsch (Rote-Bete Suppe), hausgemachte Kotlety (Frikadellen) und Pelmeni (Teigtaschen mit Fleischfüllung), kalte Vorspeisen wie Oliviersalat und Vingarete, begleitet von Cholodez (würzige Rindfleischsülze nach russischer Art), Rinderleber, süßen Piroggen und noch vielen anderen Köstlichkeiten meiner Mutter (so viel russisch muss sein), folgte immer das übliche Dessert: Mamas Blätterteigtorte Napoleon …und Papas Geschichtsstunde.
Er servierte uns die eine oder andere Episode aus seinem Leben, in der er seinen Leidensweg als Deutscher in Russland und in der Sowjetunion beschrieb. Diesmal mit deutlich mehr Farben, Details und Begeisterung als früher.

Man sah ihm sofort an, dass diese Angelegenheit ihm sehr am Herzen lag. Mein Vater redete wie ein Wasserfall. Eine Geschichte folgte auf die andere. Dabei stieg seine Stimme mit aufkommender Spannung ebenfalls an. Am Ende übertönte er im Rausch alles und jeden im Wohnzimmer und musste von meiner Mutter sogar sanft ermahnt werden wieder etwas leiser zu sein, wenn er es sich nicht mit seinem deutschen Nachbarn verscherzen wollte. Seine Aufregung war verständlich. Nach so vielen Jahren des Schweigens konnte und wollte Papa seine Gefühle nicht länger unterdrücken. Er wünschte sich, das Erlebte mit jemandem zu teilen, die leidensvolle Geschichte seiner Familie unbedingt weiterzugeben und hatte uns und der Welt deshalb eine Menge mitzuteilen.

Er erzählte uns von seiner armen und tristen Kindheit in Priosernoeje, diesem verschneiten, gottverlassenen Steppendorf im Norden Kasachstans (eine Art Sondersiedlung und Gefängnis unter freiem Himmel), wo seine Eltern direkt nach dem Überfall der Wehrmacht als vermeintliche „Volksfeinde“ und „ Kollaborateure“ zwangsdeportiert worden waren und alle zwei Wochen bei der örtlichen Militärkommandantur zur Anwesenheitskontrolle erscheinen mussten, bis der neue Generalsekretär der Sowjetunion Nikita Chruschtschow den Sowjetdeutschen gnädig erlaubte, ihr Verbannungsgebiet wieder zu verlassen und sich überall in der UdSSR anzusiedeln. Das war 1964.

Oder er beklagte sich über seine unzähligen Versuche, sich an der Südrussischen Universität für das Studium der sowjetischen Ökonomie und Volkswirtschaft einzuschreiben – erst als er einen wütenden Beschwerdebrief an das städtische Parteikomitee schrieb, in dem er es bezichtigte, ihn als „Deutschen“ zu diskriminieren, klappte es „plötzlich“ wie durch ein Wunder. Weil er angeblich dieses Mal „wirklich sehr gut vorbereitet“ war, so die Version der Universitätsleitung. Schließlich durften sie nicht zugeben, dass in der UdSSR jemand diskriminiert oder benachteiligt wurde. Schon gar nicht offiziell.

Oder er berichtete uns von einem gewissen Parteimitglied im Zentralkomitee, dessen Namen ich hier bewusst verschweigen möchte, der ihm beim geringsten Fehler sofort „antisowjetische Tätigkeiten und Sabotage“ vorwarf. Oder, oder, oder. Papa kannte genug solcher Geschichten.
Es fiel mir nicht immer leicht, den Schmerz und die Erbitterung meines Vaters zu verstehen, wenn er dann, voll in seinem Element, zornig und enttäuscht über sein Leben in Russland sprach. Wie denn auch? Uns trennten fast dreißig Jahre, meine russische Mutter und zwei Länder, denn seine Sowjetunion war anders als meine.

Papa kam sechs Jahre nach dem Krieg zur Welt und hatte den Hass auf die Deutschen noch voll zu spüren bekommen. Mir blieb diese Erfahrung zum Glück erspart. Mein Vater verband mit der Sowjetunion das Unrecht und die Erniedrigung, die ihm und seiner Familie von den Russen angetan wurden, ich ein Stück Heimat und schöne Jugenderinnerungen, die ich auch in meiner neuen Wahlheimat Deutschland nicht aufgeben wollte. Während mein Vater bis zum Schluss das Gefühl hatte, trotz seines Engagements und seiner Verdienste in diesem Land immer noch der „Fremde“ für die Russen geblieben zu sein, hielt ich mich ganz selbstverständlich für „einen von ihnen“ und fühlte mich immer persönlich angegriffen, sobald mein Vater kritisch über Russland zu sprechen begann und bot ihm jedes Mal die Stirn. Gelegenheiten dafür gab es mehr als reichlich.

Mein Vater brauchte mir nur etwas über Repressalien in seiner Familie zu sagen, da konterte ich schon mit der Lebensgeschichte meiner geliebten Oma Olga (mütterlicherseits), die während des Hungers im Alter von zehn Jahren ihre gesamte Familie in der Ostukraine verlor, im letzten Moment von einem armenischen Ärztepaar gerettet wurde und bei ihnen als Dienstmädchen im georgischen Tiflis gearbeitet hat, bevor sie eines Tages meinen Großvater – Offizier Iwan Smirnov – traf und ihn nach dem Krieg schließlich heiratete. Ihr Schicksal war nicht weniger grausam als das der Russlanddeutschen, dabei war sie selbst eine Slawin. Von Leid und Schmerz blieb damals niemand verschont.

Was das hochrangige Parteimitglied im Zentralkomitee betraf, das die Deutschen allgemein und meinen Vater persönlich „auf dem Kieker“ hatte, so konnte ich ihm eine ähnliche Geschichte auch über einen Deutschlehrer auf meinem Gymnasium erzählen, der in der Förderklasse unter mir „wenn es nach mir gehen würde, hätte ich jedem von euch (Spätaussiedlern) gerne das Flugticket nach Hause in die Hand gedrückt“ einmal während des Unterrichts fallen ließ. Damit war auch meine Wenigkeit gemeint. Muss ich dem noch etwas hinzufügen?

Unsere Fronten waren verhärtet. Je mehr er mit seiner Kritik über Russland herfiel, umso heftiger nahm ich es in Schutz. Für jede Geschichte meines Vaters hatte ich sofort meine eigene in der Tasche. Jeder verteidigte „seine“ Wahrheit. Im Grunde waren wir gar nicht so verschieden, mein Vater und ich. Drüben nahm man ihm seine deutsche Herkunft übel. Hier tat es weh, etwas Böses über Russland zu hören. Es war normal, dass wir uns nicht verstanden.
Als Papa auch an diesem Abend traditionell das Wort ergriff, stellte ich mich wie üblich auf eine seiner „klassischen“ Geschichten ein und war ziemlich überrascht, als ich feststellte, dass ich diese hier noch gar nicht kannte. Sie spielte sich weder in Russland noch in Kasachstan ab, sondern geschah im grünen und malerischen Riga in der lettischen Teilrepublik der ehemaligen Sowjetunion…

[center]XXX.[/center]
Die Reise nach Riga hinterließ bei meinem Vater einen unvergesslichen Eindruck und zählt bis heute zu den schönsten und wichtigsten Highlights seines Lebens (abgesehen von dem einmonatigen Betriebspraktikum im Westdeutschland), womit er zwangsläufig das Schicksal aller sowjetischen Menschen teilte, die zum ersten Mal den baltischen Boden berührten. Sie fühlten sich von jetzt auf gleich in ein Märchen versetzt…

Das ist kein bisschen gelogen oder übertrieben. Zur Sowjetzeit zählte die Lettische Sozialistische Sowjetrepublik oder auch Padomju Sociālistiskā Republika genannt, zu den hochentwickeltsten aber auch privilegiertesten Republiken der UdSSR, was kaum verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie „freiwillig“ die baltischen Länder der Union damals beigetreten sind. Das war selbst den letzten Hardlinern in der sowjetischen Führung immer klar und bewusst. Darum tat das Zentrum auch einiges, um die Balten „bei Laune“ zu halten.

Hier war der Sitz des großen Automobilkonzerns RAF, der für die ganze Sowjetunion Kranken- und Rettungswagen produzierte. Auch war Lettland für seine ausgezeichnete Elektronik und Kommunikationstechnik bekannt, die in Sachen Design und Qualität nur noch den Waren aus der DDR unterlagen – wenn überhaupt. Und welche sowjetische Frau wünschte sich nicht zum 8 März, dem Weltfrauentag, zu Silvester oder zum Geburtstag ein Dzintars Parfüm von ihrem Mann. Diese lettische Kosmetikmarke galt in der ganzen Sowjetunion als „Chanel des Ostens – made in Riga“ und war bei allen Frauen sehr beliebt und begehrt. Obendrein versorgte Lettland alle Bürger mit günstigen Sprotten (Dosenfisch) und Rigaer Balsam, einem schwarzen Kräuterlikör, der bitter schmeckte.

Auch war es der Traum fast jeder sowjetischen Familie, wenigstens einmal im Leben einen richtigen Sommerstrandurlaub in Jūrmala zu machen – wohl dem zweitbesten und bekanntesten Badeort der Sowjetunion – nach dem südrussischen Sotchi, versteht sich. Mit anderen Worten, Lettland galt als eine kleine Perle und die „westlichste“ Sowjetrepublik im Bunde. Hier bekam der gewöhnliche Bürger eine Vorstellung davon, wie ein Leben im „imperialistischen Feindeslager“ sein könnte – ohne die Grenzen der Sowjetunion zu verlassen. In Lettland war alles ein wenig „anders“ als im Rest des Sowjetreiches. Sogar äußerlich.
Das wussten vor allem die Regisseure und Filmemacher in Moskau zu schätzen. Weil Riga (anders als die meisten sowjetischen Städte), von den Monumenten und Bauten des Sozialismus halbwegs „verschont“ geblieben war und als ehemalige Hansestadt des Deutschen Ordens über eine sehr gut erhaltene Altstadt im gotischen Baustil verfügte, bot dieser historische „Mittelalter-Look“ eine hervorragende Kulisse für die sowjetische Filmindustrie. Extrem echt und absolut kostengünstig. Hier wurden alle Kinofilme über „das Ausland“ gedreht.
Davon gab’s etliche. Mir fallen spontan der mehrteilige Spionagethriller über Nazideutschland 17 Augenblicke des Frühlings oder sämtliche Verfilmungen von Conan Doyles Scherlock Holmes, sowie das 7-teilige lettische Melodram Ilgais ceļš kāpās – Der lange Weg in den Dünen, in dem es um eine Liebesgeschichte des Fischers Artur mit dem Mädchen Martha ging, die im sowjetischen Lettland der Vor- und Kriegszeit mutig um ihre Liebe kämpften.

Heute fünfundzwanzig Jahre später hat EU-Mitglied Lettland nach der wirtschaftlichen Integration nichts mehr außer diesen Bauten und seiner Freiheit. Die Handelsbeziehungen mit Russland sind bewusst abgebrochen. Die ehemalige Schwerindustrie, Elektronik- und Maschinenbau sind mangels Rentabilität und Nachfrage eingestampft. Zwei Drittel des Landes arbeitet im Dienstleistungssektor im Ausland. Der Rest würde auch gerne (kann aber nicht) wegziehen. Die lettischen Waren werden im Westen nur bedingt nachgefragt. Dafür ist Lettland selbst zum Absatzmarkt geworden. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Ich möchte lieber bei damals bleiben und damals galt Lettland als ein Paradies des Ostens und diente dem Politbüro als Aushängeschild des Landes. Dort zu leben war ein Traum.

1976 ging dieser Traum auch für meinen Vater in Erfüllung, wenn auch nur für ein paar Tage. Er reiste zusammen mit seiner Mutter, also meiner Oma Valentina nach Riga, um dort seinen jüngeren Bruder zu besuchen. Onkel Viktor leistete in der lettischen Hauptstadt seinen zweijährigen Militärdienst ab. Seine Schutzstaffel bewachte einen Militärflughafen in der Nähe von Tuckum, der nur 66 Kilometer von Riga entfernt war.

In Riga angekommen, begaben sich mein Vater und meine Oma sofort auf die Suche nach einem Hotel, in dem sie später übernachten konnten. Nebenbei wollten sie auch ein paar Einkäufe in der Stadt machen, da Riga genauso wie Moskau und jede andere „republikanische Hauptstadt“ traditionell besser mit Waren und Lebensmitteln versorgt war, als der Rest des Landes. Hier hatte man die Möglichkeit, an die raren und vor allem die guten Sachen heran zu kommen, die man daheim in den Läden vergeblich suchte. So sagten die Leute. Und das zu einer Zeit, als die sowjetische Wirtschaft noch keine Mangelwirtschaft war und man die leeren Theken und langen Schlangen der kommenden Perestroika-Zeit sich nicht einmal im Albtraum vorzustellen vermochte.

Mein Vater musste genüsslich feststellen, dass an dieser Behauptung viel Wahres dran war und dass das Sortiment der lettischen Geschäfte tatsächlich deutlich reichhaltiger und vielfältiger war, als das gleiche in Schachty oder bei Oma Valentina im sonnigen Kalmykien. In einem Rieger Univermag, der sowjetischen Variante eines westlichen Kaufhauses, fand er kurze Zeit später einen schicken Herrenanzug von der Stange, für sage und schreibe 70 Rubel. Zwar nicht ganz billig, aber deutlich günstiger als im Atelier beim Schneider und dazu noch ganz „frei“, das heißt ohne Beziehungen und Schmiergeld zu haben.

Mein Vater griff vor Freude sofort zu. Allerdings hatte die Sache doch noch einen kleinen Haken. Alle Anzüge die im Geschäft auf der Stange hingen, hatten die gleiche Größe. Eine Größe, in die mein Vater – der Gewichtheber – leider nicht reinpasste. Sein Pech… und ein klassischer Fall im Sowjet-Handel.

Ohne große Hoffnung zu haben, fragte mein Vater bei der Verkäuferin des Univermags enttäuscht nach, ob es im Laden noch andere Größen außer dieser gäbe.
„Von dem, was hier hängt ganz bestimmt nicht. Aber ich werde für Sie im Lagerhaus kurz nachschauen“- antwortete höflich die Verkäuferin, eine junge blonde Lettin, und verschwand im Hinterzimmer.

Sie kehrte bald mit einem Bügel in der Hand zurück und reichte meinem Vater den richtigen Anzug über die Theke.
An so viel Service und Höflichkeit war der Kunde in der Sowjetunion in der Regel überhaupt nicht gewohnt. Der sowjetische Verkäufer war für seine launische und barsche, nahezu königsherrische Art im Umgang mit den Kunden bekannt, die schon fast an Unfreundlichkeit, Arroganz und Zumutung grenzte. Man musste als Käufer viel Demut und Geduld mitbringen, wenn man mit den begehrten Waren nach Hause zurückkommen wollte. Auch galt es als unklug, sich mit den Verkäufern zu streiten oder sie mit unsinnigen Fragen zu reizen. Wie seine vorhin – zum Beispiel. Der beste Weg, den Zorn und die Ungnade des Verkäufers auf sich zu ziehen.

Nichts dergleichen geschah jedoch hier im Laden. Mein Vater war ergriffen und perplex vor Dankbarkeit und Freude. Der Service in Lettland verschlug ihm förmlich die Sprache. Er wusste nicht was er darauf sagen sollte. Die ungeschriebenen Regeln des sowjetischen Verhaltenskodexes im Alltag verlangten an dieser Stelle, dass man sich jetzt bei der Verkäuferin für ihre „Mühe“ gebührend „bedankte“, in dem man ihr etwas „drauf“ zahlte.
Mein Vater hielt der jungen Frau bereitwillig einen Fünf-Rubel-Schein hin.
Das milchweiße Gesicht der Lettin rührte ein leichtes Schmunzeln, aus dem sich nicht genau erkennen ließ, ob sich dahinter ihre Verlegenheit oder ihre Nachsicht oder sogar beides gegenüber diesem ungeschickten Sowjet verbarg, der in ihrem Land nur dankbar zu sein versuchte.

„Das brauchen Sie nicht. Wir nehmen hier nichts“- antwortete sie und wies das Geld höflich aber bestimmt zurück.
Mein Vater verließ den Laden mit dem nagelneuen Anzug –dafür aber völlig verwirrt und leicht gekränkt. Diese Letten waren in der Tat sehr speziell, fast wie Menschen vom anderen Stern. Oder wie Ausländer. Jedenfalls nicht so wie die Leute die er bis jetzt kannte.
Unterwegs schaute sich Papa mit der Großmutter die Altstadt und die Umgebung genauer an. Riga war eine kleine mittelalterliche Stadt. Und eine schöne noch dazu. Dabei ertappte er sich bei dem Gedanken, dass dies wohl die einzige legale Möglichkeit für ihn als Deutscher war, der Geschichte und Kultur seines Volkes so offen und gefahrlos näher zu kommen, diese sehen und kennenzulernen, sich daran zu erfreuen und stolz darauf zu sein, ohne Angst zu haben, Ärger zu bekommen oder gleich als „Faschist“ gebrandmarkt zu werden.

Der Einfluss der Deutschen in Riga war wirklich nicht zu übersehen. Mein Vater lief an alten Gotik-Bauten vorbei, las und sah zahlreiche Gedenktafeln in deutscher Sprache und konnte sich nicht genug an der Schönheit der alten Kirchen satt sehen: Rīgas Dom, den alten Marktplatz, den Pulverturm, das Rathaus, die Jacobs- und die Petrikirche, das Rigaer Schloss, das Gildehaus oder die Rolandstatue. Eine nahezu exotische Traumwelt, wenn man bis dahin nur das graue Granit der Lenin-Denkmäler, die kasachische Steppe und die Plattenbauten der Chruschtschow-Ära kannte.

So schön Riga und seine Läden und Sehenswürdigkeiten auch sein mochten, entging meinem Vater trotzdem nicht, dass die Letten nur scheinbar sowjetisch waren und ihre brodelnde Ablehnung gegenüber allem sowjetischen jederzeit gerne zeigten, sobald es nur die Möglichkeit dazu gab. Obwohl die russische Sprache neben der lettischen als offizielle Amtssprache galt, gab es in Riga nur hier und da Schilder und Gedenktafeln in russischer Sprache zu lesen und wenn schon, dann in einer deutlich kleineren Schrift. Ein stiller Protest auf ihre Art.
Sie waren höflich, aber kalt höflich und hielten einen immer auf Distanz. Überhaupt sprachen sie nur ungern Russisch und wenn sie es taten, ließen sie es ihrem Gegenüber deutlich spüren. Auch einem Nicht-Russen gegenüber, wie mein Vater schon bald feststellte, als er für sich und meine Großmutter nach einem Hotel suchte.

Da er sich in der Stadt nicht auskannte, griff er zu der beliebten Methode jedes Touristen, die in allen Teilen der Welt meistens bestens funktionierte: Nämlich die Einheimischen nach dem Weg zu fragen. Nur nicht in Lettland, nur nicht auf Russisch.

Die Letten, die meinem Vater über den Weg liefen, schienen alle entweder selbst ganz neu in Riga zu sein oder kaum die russische Sprache zu verstehen. Sie schickten meinen Vater dauernd in eine Richtung, die sich am Ende immer als die Falsche erwies. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nachdem er mit der Großmutter und sämtlichen Koffern, die von Minute zur Minute schwerer und schwerer wurden, fünf oder sechs Mal quer durch die ganze Stadt gelaufen war, klatschnass war und immer noch kein Hotel gefunden hatte, platzte der Oma endgültig den Kragen.

„Was bist du so dumm, Saschka! Kannst du nicht die Leute vernünftig nach einem Hotel fragen? Wir rennen wie bescheuert die ganze Stadt rauf und runter, ohne dass dabei etwas rauskommt. Ich bin müde und hungrig. Streng dich gefälligst an, mein Sohn,“ fauchte sie meinen Vater auf Deutsch an.
„Sie sprechen Deutsch? Seid Ihr Deutsche?“ hörte sie plötzlich eine freundliche weibliche Stimme sagen. Eine ältere Frau sprach Papa und Oma von der Seite an.
„Ja!“ Sagte Oma und blickte die Frau gereizt und herausfordernd an. „Warum wollen Sie das wissen?“
„Vielleicht sollten Sie auf Deutsch nach Hotel und Zimmer fragen. Wenn Sie hier noch länger unterwegs sind,“ fuhr die Greisin unbeeindruckt weiter fort, „könnte sich das unter Umständen als hilfreich erweisen. Das Hotel ist übrigens gleich um die Ecke. Sie sind die ganze Zeit an ihm vorbeigegangen. Folgen Sie mir. Ich führe Sie dahin.“

Im Foyer des Hotels sah mein Vater mehrere uniformierte Männer, die auf ihren Koffern oder Sitzen kauerten. Fast alle Russen, fast alle Angehörige des sowjetischen Militärs. Bei einem von ihnen sah mein Vater die Streifen eines Obersts. Er kannte sich bestens mit den Rangabzeichen aus, nachdem er selbst zwei Jahre auf einer Raketen- und Luftabwehrstation in Kapustin Yar gedient hatte.

Der Oberst stritt sich gerade mit der Dame an der Rezeption.
„Das Hotel ist wegen eines Kongresses ausgebucht. Wir haben keine freien Zimmer“ wiederholte die Lettin tonlos auf Russisch wie eine auswendig gelernte Gebetsformel.
„Soll ich deswegen auf dem Boden schlafen? Ich brauche ein Zimmer! Bitte geben Sie mir eins. Ich verlange es!“ wütete der Russe.
„Das Hotel ist wegen eines Kongresses ausgebucht. Wir haben keine freien Zimmer.“
„Aber schauen Sie doch bitte noch einmal nach! Seien Sie so nett. Vielleicht…“
„Das Hotel ist wegen eines Kongresses ausgebucht. Wir haben keine freien Zimmer.“
Die Lettin an der Rezeption bewies Ausdauer und Nerven. Irgendwann gab der Oberst dann doch auf und warf sich bestürzt und kraftlos auf den Sitz. Jetzt waren mein Vater und meine Oma an der Reihe. Sie stellten sich vor das Infofenster.
„Guten Tag! Ich brauche zwei Hotelzimmer für mich und meine Mutter“- sagte mein Vater auf Russisch. - „Am besten sofort für zwei Nächte.“
Er hielt es für keine gute Idee im Beisein der hier anwesenden Russen Deutsch zu sprechen (das kam einem Affront gleich) und ignorierte bewusst den Rat der alten Lettin, die ihm vorhin genau das empfohlen hat. Stattdessen reichte er der Dame die Pässe.
Die Lettin an der Rezeption legte die Pässe vor sich hin. Sie war gerade im Begriff ihre Standardansage auf Russisch abzurufen, als ihr Blick an der Zeile Deutsch hängen blieb. Sie musterte die Pässe ausführlich. Dann griff sie wortlos zum Stift und fing an zu schreiben…
„Bitte hier zweimal unterschreiben. Die Zimmer befinden sich am Ende des Flures“ sagte sie, zwar tonlos aber zumindest nicht feindselig und reichte meinem Vater die Schlüssel und Pässe durch das Infofenster.
„Das war’s, meine Lieben. Es war so ein komisches Gefühl, damals in Riga. So etwas habe ich bis dahin noch nie erlebt. Immer warst du als Deutscher irgendwie ausgegrenzt oder benachteiligt. Immer. Nur dieses eine Mal nicht. Die hochrangigen Offiziere der Sowjetarmee MUSSTEN auf den Stühlen im Foyer schlafen und meine Mutter und ich hatten zwei ganze Apartments, nur für uns! Das muss man sich erstmal vorstellen! Dabei hätte eigentlich ich an der Stelle des Obersts sein müssen. Ich der nachzugeben und sich zu fügen hatte. Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass es von Vorteil war, ein Deutscher zu sein. So etwas ist nur in Russland möglich,“ beendete er abrupt seine Erzählung und goss sich eine frische Tasse Tee ein.
Wir blieben still und hörten ihm aufmerksam zu. Auch mir fehlten die Worte. Dieses Mal konnte ihm nichts entgegen setzen…

[center]Ende
Roman Dell
09.03.2016- 16.05.2016[/center]
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Beitrag von zuzu »

Dieses Mal ist die Geschichte des Monats schnell und leicht zu erraten. Wir haben Dezember. Bald ist Weihnachten. Dabei habe ich an alle bisherigen Weihnachtstage in meinem Leben gedacht und diese kurze und heitere Geschichte geschrieben.

Wer noch mehr Weihnachtsgeschichten hören will, kann diese gerne am 14.12.2016 von 19:00 Uhr –bis 20:30 Uhr, Kulturraum "die flora", Florastraße 26, 45879 Gelsenkirchen haben. Dort findet die Weihnachtslesung der Heimatbund Gelsenkirchen e. V und Kulturraum „ die Flora“ von mir statt. Der Eintritt ist frei. Ich würde sehr über Euer Kommen freuen.


[center]Weihnachtsstress
(Kurzgeschichte)
[/center]
Wie schon die Jahre davor, machte unser Arbeitgeber uns auch dieses Mal ein großzügiges Geschenk… und schickte die gesamte Belegschaft in den Betriebsurlaub. Eine kluge Entscheidung, die ich persönlich nur begrüße. Somit wurde von Anfang an dafür gesorgt, dass nirgendwo „atmosphärische Störungen“ entstehen und jeder Mitarbeiter und Mitarbeiterin, (ob mit oder ohne Familie) etwas von Feiertagen und Weihnachten hat, ohne jemanden zu benachteiligen.

Dabei hatten wir sogar zweimal Glück. Nicht nur der Arbeitgeber, auch der Kalender meinte es besonders gut mit uns und ließ die Feiertage dieses Jahr so günstig fallen, dass man (mit Wochenenden zusammengezählt), zum Schluss auf ganze 12 Tage frei kam. 12 Tage, an denen man die Arbeit vergessen und den Wecker abstellen, sich entspannen und alles tun kann, was das Herz nur begehrt. 12 Tage= 288 Stunden=17.280 Minuten= 1,036,800 Sekunden. Viel Zeit, die einem ewig und endlos vorkommt. Aber nur auf den ersten Blick…
…denn ich halte Ewigkeit für einen abstrakten Begriff, wogegen die Zeit sich exakt erfassen lässt und das beste Beispiel für die Relativierungstheorie im Alltag ist, in der es bekanntlich um die Wahrnehmung von Raum und Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven geht. Ihr braucht gar nicht zu schmunzeln. Da ist wirklich etwas Wahres dran. Wie würdet ihr mir den sonst erklären, warum die Arbeitswoche sich immer sooooooooooooooooo lang und das Wochenende so kurz anfühlt? Sage ich doch! Der Alte Einstein wusste, wovon er spricht.
Ein freier Tag ist immer gut. Und 3 Tage sind noch besser. Mit 12 Tagen frei komme ich mir vor, wie jemand, dem der liebe Gott ein Teil seiner Lebenszeit als Vorschuss in kleinen Scheinen ohne Zinsen gewährt hat und fühle mich glücklich und vermögend. Mit 12 Tagen frei kann ich wirklich eine Menge anstellen…

Dabei brauche ich nur an den großen Stapel dicker Bücher von meinem letzten Geburtstag zu denken, die auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer auf mich warten. Oder an meinen geplanten Indien-Roman, an dem ich bereits seit 5 Jahren schreibe, aber nur mäßig vorankomme. Ganz zu schweigen von all diesen schönen und romantischen Filmen, wie Titanic oder Pretty Woman, die ich mir mit meiner Frau nochmal gerne in Ruhe ansehen möchte. Bei Kerzenlicht und gekühltem Sekt. Für all das habe ich jetzt ENDLICH Zeit.
Wieder regelmäßig Sport zu treiben, lange Spaziergänge zu unternehmen oder für eine Weile zu verreisen täte uns übrigens auch ganz gut. Wie ich schon sagte, 12 Tage frei eröffnen einem sämtliche Optionen. Man muss sich nur für irgendetwas entscheiden. Darum möchte ich nichts überstürzen und lasse den Heiligabend gemütlich angehen. Es gibt keinen Grund zur Eile. 12 Tage Frei sind Zeit genug.
Heiligabend. Am ersten Weihnachtstag hat mein Vater… Geburtstag. Deshalb ist am Vorabend das große Kochduell angesagt. Die ganze Familie befindet sich im Einsatz. Wir können das Weihnachtsfest und Vaters Geburtstag doch UNMÖGLICH nur mit Wiener-Würstchen und Kartoffelsalat oder Gänsebraten, Püree und Rotkohl feiern, wie es hier zulande üblich ist. So steht zumindest im Internet geschrieben, wenn man da 10 traditionelle deutsche Weihnachtsgerichte als Stichwort eingibt. Nach russischen Standards - VIEL ZU WENIG. Wir brauchen deutlich mehr Speisen und Gerichte. An dieser Stelle gerät die deutsche Tradition in Konflikt mit der russischen Sitte. Zum „Kalten Krieg“ kommt es aber trotzdem nicht. Wir basteln daraus einen kulinarischen Kompromiss. Frei nach dem Motto: Es wird so oder so ausgiebig gefeiert. Also warum streiten, statt ALLES zu kochen.

Während meine Schwester für Nachtisch zuständig ist und sich mit dem deutschen Mandarinen-Schmand- Kuchen und der russischen Biskuit-Torte Napoleon herumschlägt, übernimmt meine Frau die warmen Gerichte und brät Buletten und Pilze auf dem Herd. Auch ich habe einen Beitrag zu leisten. Mein Steckenpferd ist der Oliviersalat – ein sowjetischer Kartoffelsalat der ursprünglich …aus Frankreich kommt. Ein gewisser Koch namens Lucien Olivier, der im riesigen Zarenreich ein Feinschmeckerrestaurant Hermitage in Moskau betrieb, brachte dieses köstliche Rezept damals nach Russland, das sich dort großer Nachfrage und Beliebtheit erfreute. Und zwar bis heute. Die feine Adelsdelikatesse blieb auch nach der Revolution das beliebte Fest- und Leibgericht der einfachen Sowjets. Eine Absurdität? Nö! Der Russe ist und bleibt ein unverbesserlicher Frankophil. Sowohl in Zeiten von Tolstoi, als auch in der Breschnew- Ära.
Natürlich fehlen mir dabei ein paar wichtige Zutaten. Gekochte Möhren, Erbsen und Mayonnaise zum Beispiel. Ich muss dringend ins Geschäft. Wer am Heiligabend einkaufen geht…Na ja, dem ist einfach nicht mehr zu helfen. Oder er braucht ein bisschen Action. Obwohl ich trotzdem der Meinung bin, dass die Volksweisheit diesbezüglich Recht hat: Egal wie viel man „bunkert“, wenn es soweit ist, fehlt immer irgendetwas!

Der Lebensmittelladen ist proppenvoll. Und zwar jeder Lebensmittelladen in der gesamten Umgebung. Es ist kurz vor 13 Uhr. Also, fast eine knappe Stunde bis zur Schließung. Letze Chance für mich um noch schnell etwas zu holen…und ein Meer von Menschen, die mit mir dasselbe Schicksal teilen. Dabei habe ich früher immer geglaubt, dass die „Hamstereinkäufe“ ausschließlich das Markenzeichen der Bürger aus der Ost-Blockstaaten wären, die alles auf Vorrat gekauft haben, was gerade im Handel zu kaufen gab, aus Angst vor der nächsten politischen Krise und der heimischen Mangelwirtschaft, die eher für lange Warteschlangen und leere Regale als für Vielfalt und Konsumfreude bekannt war.
Lange Warteschlangen. Aber doch nicht hier, in Deutschland! O doch! Manchmal ist die menschliche Psyche sehr eigenartig und nur sehr schwer nachvollziehbar. Warum glauben alle Menschen vor Weihnachten zum Beispiel, dass eine Packung Zucker über die Feiertage auf einmal nicht mehr ausreichen soll, wo sie doch sonst wochenlang damit ausgekommen sind. Man kauft viel zu viel ein, als würde bald der Krieg ausbrechen. Dabei haben die Läden nur 2 Tage geschlossen und Deutschland selbst ist keineswegs von einer politischen Krise, von Krieg oder Mangelwirtschaft bedroht. Trotzdem tickt der Mensch überall auf der Welt gleich. „Hamstereinkäufe“ gibt es auch hier. Das sind Dinge wo deutsche und russische Seelen manchmal… harmonieren.
Der Rest des Tages ist schnell geschafft. Das Essen ist fertig, wir sind müde, alle schlafen vor dem Fernseher ein.

25.-26. Dezember. Die nächsten zwei Tage gehören der Familie. Man sitzt am Tisch, kostet zubereitete Leckereien, nippt an dem Weinglas und unterhält sich über Gott und die Welt. Mein Vater erzählt die eine oder andere Geschichte. Ich kenne die meisten davon, aber es ist trotzdem interessant. Die Weihnachtsbeleuchtung, der Tannenbaum und die Geschenke stimmen einen festlich ein. Das ist der Zauber und die Magie von Weinachten. Mir wird erneut bewusst, warum man das nicht umsonst ein Familienfest nennt. Dieses besinnliche Beisammensein, das Gefühl von Wärme und Liebe, ist der größte Schatz, der einem, neben dem Leben selbst, von oben zugeteilt wird. Ich fühle mich glücklich und nostalgisch.

Der nächste Tag, der 27. Dezember, fällt auf einen Sonntag. Die Straßen sind leer und wie ausgestorben. An den Fenstern der Häuser flimmern immer noch bunte Weihnachtsleuchtsterne und grelle Lichterketten. Noch vor zwei Tagen so gemütlich und fröhlich, wirken sie jetzt plötzlich nur noch traurig und verlassen. Wie die Überreste eines verschwundenen Glücks. Man kommt sich selbst wie ein Teil des Stilllebens vor, dass die Hand eines Künstlers auf die Leinwand dahinmalte. Ein Leben, in dem es kein Leben mehr zu geben scheint.
Wir verbringen den Tag bei einer Beschäftigung die man auf Deutsch am besten mit dem Wort Gammeln zum Ausdruck bringt. Wer hätte gedacht, dass essen, trinken und feiern so ANSTRENGEND sein kann. Wir sind müde und schläfrig. Ein perfekter Tag für einen gemütlichen Filmabend mit Wolldecke, Wein, Keksen und Snack zwischendurch. Wir lassen den guten alten Leo erneut mit der Titanic in dem kalten Atlantik versinken und haben beide Tränen in den Augen als Richard Gere der Pretty Woman Julia Roberts auf der Brandschutztreppe eines Hauses den schönsten Heiratsantrag der Filmgeschichte macht. Dann reißt die Nacht die Herrschaft an sich.

Am Montag kehrt der graue Alltag zurück. Menschen fahren wieder zur Arbeit. Und alle, die nicht arbeiten müssen, tummeln sich ziellos auf den Straßen und in den Geschäften. Das Weihnachtsgebäck wird drastisch reduziert. Die Läden und Kaufhäuser locken mit neuen Waren und Angeboten. Es wird gekauft oder umgetauscht, was das Zeug hält.

Ich komme endlich zum Schreiben, aber meine Muse ist launisch und verweigert mir plötzlich ihre Dienste. Ich habe alle Zeit der Welt… und bringe keinen einzigen Satz zu Papier. Mein Protagonist - Dr. Singh - sitzt immer noch in Chennai Express und er hat sich kein bisschen in Richtung Happy End bewegt. Das ist einfach zum Verzweifeln. Eine kleine Pause sollte frische Ideen bringen. Ich nehme mir mehrere Bücher aus dem Schrank und fange an in allen gleichzeitig zu blättern. Die Qual der Wahl ist manchmal sehr schlimm.

30. Dezember.
Das neue Jahr rückt langsam näher und mein Zeitkonto ist schon um ganze 7 Tage geschrumpft. Das ist traurig und deprimierend. In Deutschland eher zweitrangig, stellt der Silvestertag für Russen das schönste und wichtigste Fest und Ereignis des Jahres dar. Auch für mich. Ich kann die Traditionen und Aberglauben meiner alten Heimat auch in Deutschland nicht mehr loswerden. Vor allem der Aberglauben. Davon haben die Russen mehr als genug.

Die Grundregel besagt: wie man Silvester in das neue Jahr reinfeiert, so lebt man auch das ganze Jahr danach. Deshalb muss die Wohnung vor dem Jahreswechsel immer blank geputzt sein. Sonst besteht die Gefahr, dass man die nächsten 365 Tage in Chaos und Dreck verbringt. Auch an dem Festtisch darf es an nichts fehlen. Bloß nicht. Der soll reichlich und schön gedeckt sein. Maultaschen, Kartoffelpüree, Vinaigrette, Hering im Mantel, Olivier, kalte Beilagen, Buletten, Kaviar, Käse und Wurst. Das volle Programm. Lieber zu viel als zu wenig. Wer will schon ein ganzes Jahr freiwillig mager essen oder gar hungern?
Es wird empfohlen, das Neue Jahr im Kreis der Familie oder mit Freunden zu feiern. Man darf keine Schulden und keine Streitigkeit ins neue Jahr mitnehmen. Schlimm dran ist auch Jemand der während des Countdowns noch draußen unterwegs ist. Es könnte passieren, dass er im neuen Jahr mehr Zeit unterwegs als zu Hause verbringt. Auch findet die Bescherung bei den Russen immer an Silvester und nicht zu Weihnachten statt. Deshalb kaufe ich immer zweimal Geschenke. Welche für Heiligabend und welche zu Silvester.

Das bedeutet vor allem ARBEIT. Man rennt wie verrückt in die Geschäfte, putzt die Wohnung blank und muss eine halbe Ewigkeit in der Küche verbringen, damit der 31. Dezember auf keinen Fall in die Hose geht. Wir machen uns wieder an die Arbeit. Der Leser möge bitte die Beschreibung vom Heiligabend erneut lesen.

31. Dezember-1. Januar. Im Prinzip ist das nur ein Tag. Die Grenze zwischen beiden ist sehr fließend und hängt meist von dem Alkoholpegel und der Intensität der Party ab. Bei uns geht es ruhig und gesittet zu. Trotzdem habe ich am nächsten Tag den ganzen Tag leichte Kopfschmerzen. An Schreiben ist gar nicht zu denken.

2.-3. Januar. Meine Muse zeigt endlich Mitleid mit mir. Inzwischen hat Dr. Singh ein bestimmtes Dorf in Tamil Nadu erreicht und zerbricht sich den Kopf darüber, wie er dem herzkranken Mädchen (der zweit wichtigsten Protagonistin in meiner Geschichte) mit Rat und Tat helfen könnte. Vor allem benötigt er dringend Geld. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn das Geld für die OP bei dem Anführer der örtlichen Mafia leihen zu lassen. Das soll Dramatik und Spannung in die Story reinbringen. Außerdem habe ich zwischendurch eine neue Kurzgeschichte geschrieben, die ich demnächst dem Internetportal Gelsenkirchener Geschichten anbieten möchte. Dort gibt es jeden Monat eine neue Story von mir. Ich bin vernarrt in dieses Projekt.

Der Buchstapel in dem Arbeitszimmer ist jetzt auch weniger geworden. Zwei Titel sind von der Liste weg. Ich habe vor, mit dem dritten anzufangen. Aber mein Zeit-Konto ist so gut wie leer.

5. Januar. Es ist so weit. Morgen beginnt der gewohnte Alltag. Mein Urlaub ist vorbei. Dabei kommt mir das Ganze viel zu schnell und viel zu kurz vor und die 12 Tage sind weder ewig noch endlos. Und so viel geschafft habe ich auch nicht. Wo ist die Zeit nur geblieben?
Am Abend davor bekam ich überraschend einen Anruf von einem guten, alten Schulfreund aus Rheinland. Wir haben wie zwei Waschweiber stundenlang geplaudert und Meinungen und Neuigkeiten ausgetauscht. Dabei wollte er natürlich von mir wissen, wie ich die Feiertage verbracht habe. Wir kamen unausweichlich auf das Thema Urlaub und Erholung zu sprechen. Und ich teilte mit ihm meinen tristen Gedanken über Zeit und Ewigkeit.

Seine Antwort klang beruhigend. Sie war eine Mischung aus Bestätigung und Trost.
- „Da bist du nicht der Einzige. Geht mir genauso, mein Freund! - sagte er wie aus der Pistole geschossen in den Hörer.- Dabei habt ihr noch keine Kinder. Sei doch froh! Meine Tochter hält uns ganz schön auf Trab! Ob du das glaubst oder nicht. Man hat gar nichts von der Zeit. Am liebsten würde ich meinen Chef morgen sofort um einen Urlaub nach dem Urlaub bieten. Wir sind so etwas von geschafft. Ich muss mich wirklich dringend erholen...“
Und ich dachte mir: „Wie Recht du nur hast. Weihnachten ist so stressig“.


Ende

Roman Dell
21.11.2016-27.11.2016
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Beitrag von zuzu »

Und 2017 geht es um

Was ist Freiheit? Wo ist sie zu Hause? Woran lässt sich die Freiheit am besten messen? Darüber sind die Menschen im Westen und Osten oft geteilter Meinung. Während viele Einwanderer sich in der protokollarischen Ordnung des Westens in ihrer Freiheit oft eingeschränkt fühlen, macht der Westen ebenfalls kein Hehl daraus, dass deren Heimatländer in den Augen der freien Welt ein Symbol für Unfreiheit und Diktatur sind. Wer hat Recht und wer irrt sich? Ich habe mir ebenfalls Gedanken dazu gemacht und diese kleine Geschichte hier geschrieben.
Für alle, die diese neue Geschichte von mir noch mal gerne live hören möchten, lade ich sie ganz herzlich zum 2. Gelsenkirchener Kultursalon in der Flora ein, der am 15.01.2017 von 14 bis 19 Uhr in dem Kulturraumraum Flora, Florastr. 26 stattfindet. Dort gibt es neben dem Schauspiel, Theater und Musik, auch einige Literaturdarbietungen. Ihr treuer Diener ist auch dabei.



[center]Über den Wolken
oder
was ist Freiheit?


(Kurzgeschichte)
[/center]

- „Über den Wolken. Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man. Blieben darunter verborgen.“- sang einst der deutsche Liedermacher Reinhard May und das Publikum stimmte ihm begeistert zu: Ja, Recht hat der Mann. So richtig frei ist man wirklich nur im Himmel.

Freiheit ist auch das Lieblingsthema aller Russen und Russlanddeutschen, wenn sie sich jedes Wochenende an einem festlich gedeckten Tisch bei Freunden oder Verwandten versammeln. Ausgerechnet in Deutschland, fühlen sich viele von ihnen plötzlich in ihrer Freiheit TOTAL eingeschränkt. Das muss man sich erstmal vorstellen!

So auch ein flüchtiger Bekannter von mir, der in Kasachstan ein begeisterter Angler war und seinem Hobby auch in der neuen Wahlheimat unbedingt nachgehen wollte… und dabei kläglich scheiterte. Um in Deutschland weiter angeln zu dürfen, bräuchte man eine Kleinigkeit von ihm. Und zwar nichts weiter als einen Vorbereitungskurs zu Fischerprüfung sowie die Fischerprüfung selbst, damit er endlich in den Genuss eines Fischerscheins und Fischereierlaubnisscheins kommt, sprich die Angelkarte. Die Grundvoraussetzung überhaupt.

Klingt einfach, ist es aber nicht. Schon ein kurzer Blick in den Lehrplan (Fischkunde, Gewässerkunde, Fanggeräte, praktische Einweisung in die Behandlung der gefangenen Fische sowie diversen Rechtsvorschriften, (insgesamt 969)) zwang meinen neuen Bekannten seinen Traum vom Angeln auf der Stelle zu vergessen. Alle diese Fachthemen auf Deutsch zu lernen, um die 60 Prüfungsfragen richtig beantworten zu können, ließ sich in seiner Vorstellung nur noch mit den 12 legendären Arbeiten Herakles vergleichen. Insbesondere sein 5. Einsatz, bei dem der griechische Halbgott die gefürchteten Rinderställe des Königs Augias ausmisten sollte… Eine Mammutaufgabe und für jeden „Normalsterblichen“ einfach unmöglich. Genau wie diese Prüfung.

Trotzdem war mein Bekannter nicht bereit für den Rest seines Lebens auf das Angeln zu verzichten, nur, weil ihm irgendein „blöder Schein“ dazu fehlte. Also tat er etwas, das viele Russen von ihrer alten Heimat viel zu gut kennen. Er beschloss das Gesetz einfach zu ignorieren und fing an mit der Angelrute in dem benachbarten Teich heimlich Ausschau nach Fischen zu halten.

Damit kam er in Deutschland nicht weit und „angelte“ statt einen dicken Hecht…eine fette Strafanzeige wegen Diebstahl und Fischwilderei, der auch eine (nicht weniger empfindliche) Geldstrafe folgte: von sage und schreibe …2000 Euro. Damit war er restlos bedient.
- „Von welcher Freiheit sprechen die da überhaupt? Hier gibt es keine! Dafür aber zig Vorschriften für jeden Pieps! - machte mein Bekannter seinem Unmut laut Luft. –Ich bin schon als Kröte in der Sowjetunion angeln gegangen. Dort durfte ich fischen wo ich wollte, was ich wollte und so viel ich wollte. So einen Mist mit der Prüfung oder Angelkarte wie hier gab es dort nicht. Dabei haben wir angeblich in einer „Diktatur“ gelebt. Das mir so etwas im „freien Deutschland“ passiert! Einfach unglaublich und nicht zu fassen! „

Er ist nicht der einzige, der in Sachen Freiheit von Deutschland so enttäuscht ist. Auch ein anderer Bekannter von mir, hat bei diesem Thema ebenfalls einiges auf dem Herzen. Neulich hat sein 2-jähriger Sohn einen bitterbösen Brief vom Ordnungsamt erhalten, das ihm eine Ordnungswidrigkeit vorwirft und mit Bußgeld droht. Dabei hatte der Kleine nur mit seinem Esslöffel auf den Tisch gehauen… eine halbe Stunde lang. Na und! Welches Kind tut das nicht?
Das konnte die pingelige deutsche Nachbarin auf Dauer keineswegs gutheißen und hatte den Übeltäter, wie sich das auch gehört, bei der Behörde angeschwärzt. Dieser Feldwebel im Rock hält die 3-köpfige Einwandererfamilie aus Sankt Petersburg mit ihren ständigen Abmahnungen und Bemerkungen ohnehin ganz schön auf Trab.- „Und wehe, ihr lasst eure Wäsche am Feiertag draußen hängen!“ oder „Warum putzt ihr die Fenster, obwohl Sonntag ist? Das ist verboten! Wir sind hier in Deutschland, nicht in Russland“ - muss sich das Familienoberhaupt dauernd von ihr anhören … und natürlich gehorchen. Denn Gesetz ist Gesetz. Ordnung muss sein!

- „Aber in dieser Hinsicht habe ich sowieso keine Illusionen mehr! Die Freiheit, die gab’s nur drüben. Hier ist man Sklave des Gesetzes. “- schüttelte er beim letzten Mal mir sein Herz aus und legte anschließend einen Zeitungsbericht auf den Tisch.

- Da! Lies mal selbst! Hier hat ein deutscher Nachbar den anderen Nachbarn verklagt, weil sein Schäferhund nach zehn Uhr abends immer bellte. Was glaubst du, was dann geschah? Sie gaben dem Kläger Recht. Das bescheuerte Gericht hatte tatsächlich beschlossen, der andere Kerl soll dafür sorgen, dass sein Vierbeiner in dem Zeitraum von 22:00 bis 7:00 Uhr nicht bellen darf. Schließlich darf die Nachtruhe nicht gestört werden. Er soll´s dem Kötter irgendwie beibringen. Mann! Das ist Deutschland! Denen ist nicht mehr zu helfen!

Ich kann den Zorn und die Aufregung dieser Menschen weder verstehen noch nachvollziehen. Denn das, was sie da „Freiheit“ nennen, in dem sie sich eingeschränkt fühlen, halte ich persönlich für Willkür und Permissivität. Trotzdem brachten sie mich dazu, mir eines Tages diese Frage zu stellen: Wie frei war eigentlich der sowjetische Mensch?

[center]XXX[/center]

Oberflächlich betrachtet, fühlte sich der sowjetische Mensch im Alltag keineswegs eingeschränkt oder unfrei. Eher das Gegenteil. Er genoss komplette Narrenfreiheit. Keiner schaute ihm über die Schulter und sagte mahnend: - „Wer hat dir erlaubt hier zu fischen oder ein Grillfeuer anzuzünden?“ oder “Warum bohrst du in deiner Wohnung nach 22 Uhr? So geht es aber nicht, Freundchen! “ Was nicht heißt, dass es bei uns keine Regeln oder Vorschriften gab. Oh doch! Nur wurden sie oft und gerne missachtet. Dementsprechend sah auch der Umgang der Menschen miteinander aus. Niemand hatte dem anderem etwas zu sagen, ohne dabei Schläge zu riskieren. Ich meine es wörtlich, keine Floskel!

Dabei brauche ich nur an einen Horror-Nachbarn von mir -den arbeitslosen Ex-Knacki- zu denken. Dieser Bursche besaß die hässliche Gewohnheit, je nach Trunkenheitsgrad die Nacht zum Tag machen zu wollen und legte pünktlich um Mitternacht… eine AC/DC Platte auf. Und das an fast 7 Tagen in der Woche! Inklusive Sonntag. Daher kann ich die Sache mit der Nachtruhe schon sehr gut verstehen. Mich stört das Urteil jedenfalls nicht.

Auch sonst schien der sowjetische Mensch sich nur selten an Vorschriften zu halten. Die protokollarische Hausordnung des Westens, die das harmonische Zusammenleben im Alltag regelt und in den Köpfen der Menschen hier nicht weg zu denken ist, war ihm drüben größtenteils fremd. Er erledigte seine Wäsche, putzte die Fenster, renovierte die Wohnung, grillte, bohrte, fischte und feierte, wann und wo es ihm gerade passte und nahm kaum Rücksicht auf die Anderen. Doch war diese Freiheit tatsächlich Freiheit?

Wenn es um die Freiheit außerhalb des banalen Zusammenlebens ging, wurde die Sache auf einmal kompliziert. Hier steckte der Teufel im Detail. Die sowjetische Verfassung garantierte ihren Bürgern sämtliche Rechte, unter anderem auch das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit und Wahl des Wohnsitzes oder das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung (hört sich fast wie im Westen an) … und schränkte sie gleichzeitig geschickt ein. Das Paradebeispiel dafür war die Regelung mit der Reisefreiheit.

In meinem Kinderzimmer hing eine bunte Weltkarte. Sie war so groß wie die Hauswand selbst. Ich liebte es, alle Länder und Hauptstädte darauf stundenlang zu betrachten und von Abenteuern zu träumen, sobald ich ein Buch über eines dieser Länder las. Vor allem Staaten wie Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Griechenland, Indien, Japan, China oder Iran hatten es mir besonders angetan. Jedes Mal, wenn ich mit Leonardo da Vinci die Straßen Florenz auf der Suche nach Inspiration und Ideen durchquerte oder zusammen mit dem König Heinrich von Navarra zur seiner Thronbesteigung nach Paris reiste, der während der Zeremonie den berühmten Satz „Paris ist eine Messe wert“ fallen ließ, kam mir trotzdem zu keiner Zeit der Gedanke in den Sinn, dass man über diese Orte nicht nur lesen, sondern sie gegebenenfalls auch bereisen oder besuchen könnte. Wie jeder Bürger im Westen. Das sprengte die Grenzen meiner Vorstellungskraft.

Zwar räumte die sowjetische Regierung, wie ich schon sagte, jedem Bürger theoretisch das Recht ein, die befreundeten Länder des sozialistischen Auslandes wie Ostdeutschland, Ungarn, Polen, Bulgarien, Tschechei, Jugoslawien, China, Nordkorea oder Kuba bereisen zu können, doch in der Praxis war dieses Glück oft nur wenigen Privilegierten gegönnt. Als solche galten die Funktionäre selbst, aber auch Menschen die eine Auslandsreise als Belohnung für irgendwelche Verdienste um ihr Heimatland bekommen haben, sowie verschiedene Fachspezialisten, die im Auftrag der Regierung im Ausland arbeiten durften. Meistens in Syrien, Ägypten, Libyen, Nordkorea, Lateinamerika oder in den Ländern des afrikanischen Kontinents, je nach Bündnisfall oder politischer Lage. Es gab jedoch keine Reisebüros wie im Westen, die sämtliche Urlaubsreisen ins Ausland für die heimische Bevölkerung anboten. Zumal die Länder des kapitalistischen Westens und die USA sowieso Tabu waren. Zwar durften die Ausländer die Sowjetunion (wegen Devisen) gerne bereisen, ein Angebot, das vor allem die Finnen auf Grund des Prohibitionsgesetzes in ihrem Land und der niedrigen Preise für Wodka vor Ort gerne nutzten , (so konnten sie sich in Leningrad richtig „austoben“, aber umgekehrt ging es für die Sowjetbürger nicht. Sie mussten zu Hause bleiben. Schon der Gedanke an einen Besuch bei dem „Klassenfeind“, galt als Verrat und Kapitalverbrechen.

Als mein Vater im Rahmen einer sowjetischen Delegation als Mitglied der kommunalen Stadtverwaltung die BRD und Gelsenkirchen bereisen durfte, konnten wir unser Glück kaum in Worte fassen. Somit standen wir auf einmal auf derselben Stufe wie Olympia-Sportler, Balletttänzer, prominente Künstler, Regisseure, Wissenschaftler und Regierungsmitglieder. Denn nur diese durften in der Sowjetunion wirklich ÜBERALL hinreisen.
Doch nicht nur das kapitalistische Ausland war Tabu. Auch im Inland gab es diverse Vorschriften, die die Freizügigkeit der Bürger intern künstlich einschränkten, wenn man sich an bestimmten Orten in der UdSSR niederlassen wollte.

So galten die Hauptstädte wie Moskau und Leningrad bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als „geschlossene“ Städte. Um dort langfristig bleiben zu dürfen, brauchte jeder (nicht aus Moskau oder Leningrad stammende) Bürger auf jeden Fall eine stoliznaja propiska- eine Sondermeldebescheinigung des Einwohnermeldeamtes für Arbeitsmigranten, die den Zugereisten einen streng limitierten Aufenthalt (meistens 3 bis 5 Jahre) in der Hauptstadt gewährte. Diese erhielt man nur, wenn der Bewerber in Moskau oder Leningrad studieren wollte oder auf Grund eines Arbeitsvertrages eine Einstellung in diesen Städten nachweisen konnte. In der Regel eine schlecht bezahlte und gesundheitsschädliche Arbeit in der Schwerindustrie, in Chemie und- Baubetrieben, sowie Akkordarbeit am Fließband oder die Tätigkeit eines Dworniks (sowjetische Variante des Straßenfegers und Hausmeisters in einer Person), die jeder gebürtige Moskauer oder Leningrader, der etwas auf sich hielt, zutiefst verachtete und nach Möglichkeit ablehnte.

Solche „Arbeitskräfte“ hießen in der Umgangssprache der Moskauer und Leningrader „Limitschik“, ein Begriff, der seinen Ursprung in dem Wort „Limit“ hat. Trotzdem waren diese Arbeitsstellen sehr knapp und äußerst begehrt. Man tat alles und zahlte jedes Bestechungsgeld, nur um einen Job in der einen der beiden Hauptstädte zu bekommen und hier eine Weile (oder vielleicht für immer) bleiben zu dürfen. Weniger auf Grund des Werklohnes (der war mickrig und karg), sondern wegen der allgemein besseren Lebensbedingungen und erstklassigen Versorgung mit den Waren des alltäglichen Bedarfes, die extra nur für diese zwei Städte galten, so dass die Kluft im Lebensstandard zwischen den Metropolen und der Peripherie im Rest des Landes enorm war.

So oder ähnlich ging es in fast allen blühenden Wirtschaftszentren und Republikhauptstädten der Sowjetunion. Wer in Kiev, Gorky, Kasan, Rostov am Don Alma-Ata, Taschkent, Tallin oder Riga leben wollte, hatte es in der Regel nicht leicht. Er musste Limitschik werden und dafür jahrelang im Werk ackern oder sich sein Glück durch die Heirat mit den „Einheimischen“ zusichern. Damit versuchte die Regierung den gewaltigen Zulauf in diese „Oasen des Glücks“ künstlich zu drosseln, damit auch „am Auspuff der Welt“ die Arbeitshände niemals fehlten.
Auch die anderen Rechte der Verfassung hatten oft einen „Wurm“. So verlor das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung jeglichen Sinn, sobald es um antisowjetische Tätigkeit und Propaganda ging. Als solche galt jede Form von praktischem Handeln und öffentlicher Kritik, die die Richtigkeit des ideologischen Kurses, selbst in heiterer Form (ein Regierungswitz), in Frage stellten. Diese Härte und Haltung mögen zwar aus ideologischen Gründen damals verständlich gewesen sein, schlossen jedoch jegliche alternative Meinung (und somit Objektivität generell) von vorne aus, die in der freien Welt wie ein Amen in der Kirche dazu gehört.

Später fand ich beim Stöbern in diversen Antiquariat-Shops sämtliche Werke und Buchtitel über die Sowjetunion, den Kommunismus und die kommunistischen Führer des Ostblockes, die in den 70-er und 80-er Jahren in der BRD erschienen und hier offensichtlich GANZ LEGAL zu erwerben waren. Selbst die Schriften und Biographien von Wladimir Iljitsch Lenin, Ernesto Che Guevara, Fidel Castro und Kim Il Sung waren dabei. Die hiesige Regierung hatte keine Angst vor dem Risiko, ihren Bürgern die Freiheit zu gewähren, sich eine eigene Meinung selbst zu bilden, auch wenn der eine oder andere dabei möglicherweise einen Blick in das „feindliche“ Lager riskierte. Das war irre und ziemlich beeindruckend. Ich liebte die Sowjetunion und habe selbst heute noch meine emotionale Nähe zu meinem Geburtsland nicht verloren, dennoch kann ich nicht meine Augen vor den Fakten und der Wahrheit verschließen. Eine Biographie von John Kennedy oder Richard M. Nixon, mitten im Kalten Krieg, und dazu noch ganz legal und freiverkäuflich im Buchregal eines sowjetischen Buchladens wäre bei uns einfach undenkbar gewesen. Aber nur so funktioniert Demokratie in der ganzen Welt.
Religionsfreiheit war ebenfalls eine Farce. Die UdSSR war ein überzeugtes Atheisten- Land. Deshalb war die Kirche vom Staat streng getrennt. Zwar war es offiziell nicht verboten in die Kirche zu gehen oder sich taufen zu lassen, doch dieses zog inoffiziell diverse „Strafmaßnamen“ nach sich: Hochkantiger Rauswurf aus der Partei, Versetzung, Dienstdegradierung oder Exmatrikulation aus allen staatlichen Organen und Anstalten. Das Ende und ein Albtraum für jede angehende Karriere.

Für Devisenhandel und Devisenbesitz landete man für gewöhnlich im Gefängnis. US- Dollars oder D- Mark bei einem normalen Sowjetbürger sicher zu stellen, galt für den Staat als unwiderlegbarer Beweis eines Hochverrats, den der Bürger (verführt oder genötigt durch die feindlichen Geheimdienste) unbedingt begangen haben musste. Wie käme er sonst an das ausländische Geld? Er hatte die Fremdwährung doch nicht für seine schönen Augen von irgendeinem Touristen als Souvenir bekommen. Da musste doch mehr gewesen sein. So, die Ideologie damals.

Generell unterlag jeder Kontakt mit dem Ausland der Kontrolle von staatlichen Organen. Telefonate, Briefe, einfach alles. Der Staat guckte und hörte mit. Als in unsere Stadt eines Tages Besuch aus Deutschland kam, wollten einige Mitglieder der deutschen Delegation mit eigenen Augen sehen, wie die Russlanddeutschen in der UdSSR leben und ob sie hier wirklich diskriminiert sind. Dass mein Vater zufällig einer war, kam den heimischen Funktionären deshalb sehr gelegen. So konnten sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Ohne großen Aufwand den Deutschen ihre Bitte erfüllen und dabei beweisen, dass in der Sowjetunion niemand diskriminiert wird und selbst ein Volksdeutscher eine hohe und geachtete Stellung in der sowjetischen Gesellschaft erreichen kann. Wie mein Vater zum Beispiel.

Obwohl mein Vater Deutsch sprach, bekamen wir trotzdem einen Dolmetscher zur Seite gestellt, in dem man leicht den Vertreter einer gewissen Organisation erkennen konnte. Aber das gehörte zu den Spielregeln. Nach einem Dutzend geleerten Wodka-Pinscher und sämtlichen Trinksprüchen in einem fremden Land, dessen Sprache er weder sprach noch verstand, bekam einer der deutschen Gäste irgendwann Mal Heimweh nach seiner Familie und fragte meinen Vater ob er von uns aus… nach Deutschland anrufen dürfte.
Es war nur der Bruchteil einer Sekunde und der Deutsche war viel zu blau, um auch zu merken, wie mein Papa erstarrt zum Dolmetscher hinaufblickte und der mit dem leichten Augenzwinkern sein Einverständnis dazu gab, bevor mein Vater erleichtert zum Telefon griff. Er musste beim staatlichen Telefonanbieter die Auslandsverbindung mit der BRD bestellen.
Noch jahrelang später ärgerte ich mich über diese sorglose Bitte des Deutschen. Naiv wie er war, hatte er meine Familie dennoch ungewollt in eine prekäre Lage gebracht. Ein Glück, dass wir da schon Perestroika hatten. Vor gar nicht so langer Zeit und mit einem anderen Generalsekretär im Kreml, hätte sein unbedachter Wunsch für uns gewisse Folgen gehabt…

[center]XXX[/center]

Noch viel schlimmer als geschlossene Grenzen finde ich jedoch, wenn Kunst und Kultur darunter leiden müssen und der Staat in die Freiheit des Geistes und des Gedankengutes seiner Bürger eingreift. Der Sowjetunion lag sehr viel an gebildeten Bürgern. Die Preise für Bücher- und Zeitungen waren ein Witz, man konnte dutzende davon abonnieren, weshalb der sowjetische Mensch damals in der Tat überdurchschnittlich belesen war und ein brillantes Allgemeinwissen besaß, was selbst die Experten im Westen heute ungern zugeben.
Anders als im Nordkorea schloss der sowjetischer Staat die fremdsprachige Literatur nicht von Anfang an komplett aus, sondern setzte sie geschickt als Gegenpropaganda ein, solange diese Bücher und Autoren in das ideologische Konzept der Regierung passten und das Leben im Kapitalismus sozialkritisch darstellten oder die Idee einer Weltrevolution indirekt unterstützten. Wie in den Werken „Martin Iden“ oder „Mexikaner“ von Jack London der „Die amerikanische Tragödie“ von Theodor Dreiser.

Auch Ernest Hemingway, John Steinbeck, Erich Maria Remarque, Stephan Zweig, Lion Feuchtwanger, F. Sott-Fitzgerald, J. D. Salinger und Irwin Shaw genossen bei dem sowjetischen Leser große Beliebtheit. Trotzdem waren die Literatur, das Kino und die Kunst bei uns niemals bedingungslos frei. Es gab schon Zensur und konkrete Einschränkungen, sonst wären Solschenizyns Archipel Gulag und Pasternaks Doktor Schiwago in unserem Land niemals verboten gewesen. In einer freien Welt ist die Kunst aber immer frei. Und zwar ohne Zensur und Vorbehalte.
Dabei muss ich immer an meine Mutter denken, wenn sie abends einen Stapel loser Blätter (oft auf der Schreibmaschine mit Hilfe eines Kohlepapiers abgetippt) auf dem Tisch las. So kamen illegale Werke zu uns ins Haus, die damals in der Sowjetunion auf der schwarzen Liste der Zensur standen. Wenn das Buch meiner Mutter besonders am Herzen lag, tippte sie es in zwei drei Nächten selbst ab. Im Westen habe ich später hunderte von Exemplaren von „Archipel Gulag „oder „Doktor Schiwago“ in den Schaufenstern der Läden gesehen. Die Menschen gingen an ihnen unbeeindruckt vorbei. Es war nur ein Buch und inzwischen auch nichts Besonderes hier. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verschwand Russland schnell aus der Mode. Niemand wollte diese Bücher mehr lesen. Drüben bedeutete schon der Besitz dieses Buches einst ein schweres Verbrechen, für das man ins Gefängnis landen konnte. Und wie es in einem russischen Gefängnis so ist, brauche ich euch hier sicher nicht zu erklären. Daran muss ich noch heute denken, wenn ich Solschenizyn und Pasternak im Schaufenster der Buchgeschäfte stehen sehe.

Noch viel schwerer tat sich die Regierung mit dem ausländischen Film. Wenn das Kopf- Kino der Bücher sich im Gehirn der Leser abspielte und nur der Kraft seiner persönlichen Phantasie unterlag, besaß das Bild auf dem Zelluloid eine vernichtende Kraft. Es musste gar nicht eine antisowjetische Handlung haben. Schon das Bild von anderen Straßen oder gefüllten Läden, konnte in den Köpfen der Menschen womöglich unangenehme Fragen oder Zweifel auslösen. Deshalb war das Auslandskino besonders zensiert. Als ich nach Deutschland kam, wurde mir irgendwann mal bewusst, wie viele schöne Filme, Bücher, Musikstücke für mich für immer „unentdeckt“ hätten bleiben können, wenn der Eiserner Vorhang noch bestehen würde.
All das lässt sich in einem Land wie Deutschland sehr leicht verdrängen und vergessen, weil die Freiheit hier eine Selbstverständlichkeit ist. Und zwar in allen ihren Facetten. Auch wenn der eine oder andere Bekannte von mir es sicher anders sehen würde. Trotzdem hindert ihn niemand daran, seinen Unmut und seine Empörung über die Freiheit und die Lebenssitten in der pingeligen BRD hier laut „frei zu äußern“ oder ein paar abschätzige Kommentare über Politik, Spießermentalität der Deutschen und „Mutti“ auf Facebook zu schreiben. Es passiert nichts. Überhaupt nichts. Er kann lesen, gucken, denken und sagen, was er will. Auch gibt es in Deutschland keinen Personenkult. Hier hängen in den Schulen keine Merkel-Bilder, wie die Gorbatschows Portraits bei uns damals.

Und wenn mein Bekannter seine Freunde und Verwandten in der Russischen Föderation über Skype anruft oder seine alten und kranken Eltern in St. Petersburg besuchen möchte, stehen der Verfassungsschutz und der BND am nächsten Tag immer noch nicht vor seiner Tür, auch wenn das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland momentan sehr zu wünschen übriglässt. Er braucht auch niemanden um Erlaubnis zu fragen, wenn er ins Ausland reisen oder mit dem Ausland telefonieren möchte. Nicht wie mein Vater damals bei dem Besuch der Deutschen. Das ist die wahre Freiheit. Daran und nur daran lässt sich die Freiheit wirklich messen.

Und so lange es so bleibt, kann ich persönlich mit dem pingeligen deutschen Nachbarn schon sehr gut leben. Und für alle die sich gern über die Nachtruhe aufregen oder die praktische Einweisung in die Behandlung der gefangenen Fische doof finden, bleibt mir hier wirklich nur eines zu sagen: „Jetzt mal ganz ehrlich, Freunde! Die uneingeschränkte Freiheit gibt es nirgendwo. Ja, nicht einmal über den Wolken. Da muss ich Reinhard May doch bitter enttäuschen. Dort hat nämlich der Lotse das Sagen!“

Ende
Roman Dell
16.08.2016-29.08.2016
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Hier eine neue Geschichte:

Ein weiser Mann sagte, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Ich muss dazu sagen: Aber leider auch die traurigsten. Es gibt Geschichten, die man im wahren Leben besser nicht schreiben sollte, weil sie durch Schmerz und Verlust entstehen und die Personen darin einem viel bedeuten. Diese Geschichte ist eine davon. Die Literaturszene im Ruhr-Gebiet hat einen schweren Verlust erlitten. Die Gladbeker Autorin und gebürtige Gelsenkircherin Birgit Salutzki ist im Dezember letzten Jahres überraschend gestorben.
Birgit war ein vielseitiger Mensch und ihre Buchprojekte auch. Neben Kindergeschichten schrieb sie auch Krimis und Fachbücher. Auch wenn sie seit Jahren in ihrer Wahlheimat Gladbeck lebte, trug sie die Stadt der Tausend Feuer immer in ihrem Herz und vergaß ihre Geburtsstadt nie. Darum hat sie ein Buch über Gelsenkirchen geschrieben. Stadtgespräche aus Gelsenkirchen. 45 Interviews, Portraits und Gespräche mit bekannten, weniger bekannten und ganz unbekannten Gelsenkirchener, die eine schöne und besondere Geschichte über Gelsenkirchen zu erzählen hatten. Dieses Buch war eine Liebeserklärung an unsere Stadt. Ich will mich von Birgit auf meine Art verabschieden. Diese Geschichte ist eine Hommage an sie.




[center]Es lebte einmal eine Schriftstellerin.
In Andenken an Birgit Salutzki
[/center]

Es lebte einmal eine … Oder wie soll ich richtig anfangen? So oder ähnlich würden doch immer ein Kindermärchen oder eine alte Sage beginnen. Aber meine Heldin war erwachsen und lebte in der Gegenwart. Ich könnte diese Geschichte auch wie bei Erich Segal in Love-Story anfangen „Was kann man sagen von einer Frau von einundfünfzig Jahren, die gestorben ist. Dass sie schön war. Und hochbegabt. Und intelligent. Und dass sie das Schreiben und die Musik liebte. Mehr als alles andere auf der Welt.“ Oder ganz auf literarische Ausschmückungen verzichten. Schließlich schreibt das Leben die besten Geschichten...Aber leider auch die traurigsten.
Ich will die Traumwelt meiner Protagonistin jedoch noch eine Weile behalten, deshalb bleibe ich dem ersten Satz treu: Es lebte einmal eine… Schriftstellerin. Sie hieß Brigit, kam in der Stadt der 1000 Feuer zur Welt und wurde von den Engeln mit einer besonderen Gabe beschenkt: sie liebte und beherrschte die Magie der Worte. Aber sie wusste noch nichts davon. Es kam später. Viel, viel später.

Schon als kleines Mädchen träumte unsere Birgit von einem Leben voller Reisen und Abenteuer und hatte mit ihren Eltern und ihrer Schwester Christine eine Menge fremde Länder und Orte besucht und dabei vieles Außergewöhnliches erlebt und gesehen. Und wenn die Nacht die Erde mit ihrem pechschwarzen Deckmantel mit silbernen Sternen bedeckte, veranstalteten die beiden Mädchen einen Gute- Nacht-Geschichtsabend in ihrem Zimmer und die große Schwester Christine las der kleinen Schwester Birgit eine spannende Geschichte vor. Es dauerte nicht lange, da reichte es Birgit nicht, mehr den fremden Geschichten zu zuhören. Sie hatte den Wunsch, ihre eigenen zu schreiben und zu erfinden… Doch sie war noch zu klein dafür.
Dann kam die erste Trennung in ihr Leben. Ihr Schwesterherz Christine begann ein Studium in der Ferne und musste das Elternhaus und ihre kleine Schwester verlassen…aber sie hatte immer noch ihre Fantasie. Sie half Birgit diese Sehnsucht und ihren Schmerz zu überwinden.
Die Zeit verging. Irgendwann mal wurde aus dem kleinen Mädchen eine intelligente, hübsche und erwachsene Frau. Sie ging aufs Gymnasium, machte ihr Abitur und begann kurze Zeit später eine Ausbildung an der Handelsschule. Und doch gehörte ihr Herz in Wahrheit der farbigen Traumwelt des Schreibens und nicht dem grauen Alltag der Menschen. Ein unsichtbarer Ort jenseits der irdischen Welt, an dem die Geschichten und die Schriftsteller zusammenlebten und sich voneinander nicht trennen konnten. Das Mädchen Birgit wusste, dass sie zu dieser magischen Welt gehörte. Aber Birgit, die Frau, musste noch etwas warten, bevor sie diese betreten dürfte.

Das Leben ging weiter. Das Mädchen verliebte sich. Ihr Gemahl Waldemar war ein hochgewachsener, attraktiver und herzlicher Mann. Die kleine Prinzessin traf ihren Traumprinzen. Sie zogen in eine andere Stadt um. Söhne Daniel und Lars wurden geboren. Da kam die Erinnerung an die Märchenstunden mit ihrer älteren Schwester hoch.
So wie einst mit Christine erzählte und las sie Daniel und Lars jetzt auch spannende Märchen und fantastische Geschichten vor. Zunächst fremde (und später ihre eigenen) Fortsetzungen dieser Geschichten. Die Kinder hingen gebannt an ihren Lippen. Eines Tages beschloss sie das Erzählte niederzuschreiben…und die Schriftstellerin Brigit wurde geboren. Die Türen der Traumwelt öffneten sich.

Birgit schrieb ihr erstes Buch. Es war ein Geschenk und eine Hommage an ihre Kinder. In dem 272 Seiten großen Kinder- und Jugendroman ging es um den kleinen Jungen Luka und seine Freundin Tessa, die zusammen durch die Zeit reisten. Eine Idee die aus Birgits abendlichen Erzählstunden mit ihren Söhnen und ihrer eigenen Fantasie entsprang. Das Buch war gut. So gut, dass ein Verlag es unbedingt drucken wollte. Im C.V. Traumland-Verlagshaus fanden Luka und Tessa kurze Zeit später ein zweites Zuhause. Der Mensch Brigit war glücklich. Auch ihr Schriftsteller-Herz blühte auf. Aber sie wollte mehr.

Unsere Schriftstellerin wollte ihre Liebe zum Buch mit anderen teilen: jenen die lesen und jenen die schreiben. Also gründete sie zusammen mit ihrer Schwester Christine ein Literaturverein, den sie auf den Namen Wortrausch tauften. Hier sollten sich Leser und Autoren treffen und ihre Meinungen und Eindrücke über die Kunst und die Literatur austauschen. Auch wollten sie den anderen Künstlern und Autoren helfen, ihren Weg auf die Bühne und zum Publikum zu finden, und organisierten viele Lesungen und Ausstellungen.

Das Gladbecker Literaturfestival „Buchkultur“ war die bekannteste Veranstaltung von Birgit, Christine und Wortrausch. In den Wänden des Gladbecker Heisenberg-Gymnasiums ließen sie Dichter, Maler, Künstler und Autoren aus der ganzen Region 3 Jahre lang zu Wort kommen und ihre Werke den Zuschauern persönlich präsentieren. Ein Umstand, dem auch der Autor dieser Zeilen seine persönliche Bekanntschaft und Freundschaft mit dem MENSCHEN Birgit und der SCHRIFTSTELLERIN Salutzki verdanke. Birgit war ein vielseitiger Mensch. Ihre Buchprojekte auch. Sie probierte gerne etwas Neues und suchte beim Schreiben ständig nach Herausforderungen.

Ihr nächstes Buch war daher kein Roman, sondern ein… Fachbuch. Es trug den leicht akademischen Titel: Stressfaktor Schule: aufklärende Einblicke in den Lehreralltag und handelte von den Lehrern, die offen über Probleme und den Alltag im Schulsystem Deutschlands sprachen. Das Buch war kurzweilig, sehr gut recherchiert und brillant geschrieben. Jedes Buchkapitel behandelte ein bestimmtes Problem. Sei es das Verhalten der Schüler, die Akzeptanz in der Gesellschaft, Lehrpläne oder Personalmangel usw. Nichts wurde beschönigt oder ausgelassen. Dazu jede Menge Tabellen, Statistiken und Erfahrungsberichte.
Aber in ihren Gedanken war Birgit bereits bei einem anderen Buch. Es sollte wieder ein Sachbuch, aber ein GANZ ANDERES Sachbuch werden. Auch wenn sie seit Jahren in ihrer Wahlheimat Gladbeck lebte und sich dort wohl und glücklich fühlte, trug sie die Stadt der Tausend Feuer immer in ihrem Herzen. Sie liebte Gelsenkirchen und vergaß ihre Geburtsstadt nie. Und weil sie Gelsenkirchen so innig liebte, beschloss sie ein Buch über diese Stadt und ihre Bewohner zu schreiben. Stadtgespräche aus Gelsenkirchen. 45 Interviews, Portraits und Gespräche mit bekannten, weniger bekannten und ganz unbekannten Gelsenkirchenern, die durch die Liebe und die Zuneigung für ihre Stadt vereint sind. Lokalpolitiker, Starsportler, Sternköche, Künstler, diverse Promis und einfach Menschen, die eine schöne und besondere Geschichte über Gelsenkirchen zu erzählen hatten.

Mit Ruhrkälte feierte Birgit Salutzki ihr Debüt in dem Ruhr-Krimi-Genre.
Auch die Handlung dieses Buches spielte stellenweise in ihrer Geburtsstadt Gelsenkirchen. Dort ließ sie Kommissar Marius Pérez, einen Halbspanier und eingefleischten Hardrock-Fan die Morde im alten Sportsstadion von Schalke, auf der Glückauf Kampfbahn, und im Gasometer in Duisburg untersuchen und ermitteln. Eine neue Etappe in ihrer Schriftsteller-Karriere.

Manchmal trafen wir uns bei öffentlichen Vorlesungen, an denen wir beide teilnahmen, oft als Autoren, manchmal als Zuhörer. Meistens bei Jenny Canales, der deutsch-chilenischen Dichterin und Malerin, die ein Kunstatelier „Kunst in der City“ in der Weberstraße in Gelsenkirchen führte.

Als ich das letzte Mal in Dezember einen Artikel über Birgit in der WAZ las, plante sie gerade mit Ruhrkälte mehrere Lesungen in den Buchhandlungen des Ruhrgebietes. Birgit sah sehr frisch und ausgeglichen aus. Ich wusste, dass sie sich inzwischen durch die Literatur-Agentur Ashera vertreten ließ und gleichzeitig an mehreren Buchprojekten arbeitete. Ein Erfolg der ihr jedes Mitglied unserer Literaria von ganzem Herzen gönnte. Ein Erfolg den sie sich hart erarbeitet hatte. Und dann…



…Dann geschah etwas, wovor jeder von uns Menschen und Schriftsteller am meisten Angst hat. Der Tag, an dem das Leben an der Tür unserer Traumwelt klopft und sagt: „Hier bin ich. Es ist vorbei. Im wahren Leben habe ich das Sagen. Im wahren Leben gibt es Leiden und Tod“.

Und dann ist das Leben einfach nur absurd. Es ist absurd und ein Widerspruch, dieses schöne und strahlende Wetter dabei zu haben, wenn man gleichzeitig zur Beerdigung geht. Der Frost und die Sonne auf der Haut zu spüren, zu sehen, wie die Natur und der Körper sich des Lebens erfreuen, als wäre nichts, oder als ob nichts Schlimmes geschähe, obwohl die Trauer dein Herz in tausend kleine Stücke zerreißt. Es ist absurd und ein Widerspruch, ihr junges Gesicht voller Freude und Lebenslust auf dem Foto zu betrachten und zu wissen, dass sie von uns gegangen ist. Es ist absurd und ein Widerspruch, diesen Kreislauf des Lebens mühsam durchzulaufen, zu wachsen, zu lernen, Karriere zu machen, wenn der Mensch sich am Ende doch im Nichts auflöst. Das will ich nicht. Und ich kann es gar nicht glauben. Ich weigere mich, den Tod, Ihren Tod, als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren.

Da hilft nur ein kleiner Trost. Denn manchmal können die Toten weiterleben, so lange ihr Lebenswerk in Erinnerung bleibt. Das passiert auch jetzt, und zwar in jenem Moment, in dem ein kleines Mädchen im Buchladen um die Ecke nach einem Buch in dem Regal greift und ihre Mutter unverhofft fragt: Mama, Mama! Was steht da geschrieben? Wer ist die Frau auf dem Foto?

Und die Mutter wird ihrer Tochter die Lektüre aus der Hand nehmen, den Text auf der Ruckseite kurz überfliegen und ihr liebevoll erklären:“ Es lebte einmal eine… Schriftstellerin. Sie hieß Brigit, kam in der Stadt der 1000 Feuer zur Welt und wurde von den Engeln mit einer besonderen Gabe beschenkt: sie liebte und beherrschte die Magie der Worte. Sie hat dieses Buch über Luka geschrieben! Wenn du möchtest, kaufe ich es dir…“

Ende
20.12. 2016-01.01.2017
Roman Dell
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Zum Internationalen Frauentag gibt es eine besondere Geschichte von Roman Dell!

Einmal wurde ich Zeuge eines interessanten Gesprächs. Zwei deutsche Floristinnen, ein junges Mädel und ihre ältere Kollegin, unterhielten sich an der Bushaltestelle. Da sagte die Kleine plötzlich: „Was war heute bloß für ein komischer Tag! Den ganzen Morgen kamen Russen bei uns vorbei und haben mir alle Blumen im Laden abgekauft. Dabei ist der Valentinstag doch schon längst vorbei! Was hat das Ganze zu bedeuten?“. Ihre aufrichtige Verblüffung über die Scharen von russischen Männern, die alle Blumenläden in der Stadt leergekauft haben, brachte mich zum Schmunzeln. Ich sah darin nichts Komisches, geschweige denn Außergewöhnliches, denn ich wusste genau woran es lag. Darum geht es gleich in der heutigen Geschichte.


[center]Die Königin für einen Tag
-Weltfrauentag 8 März in der Sowjetunion-
Kurzgeschichte
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[center]XXX[/center]
Einmal wurde ich Zeuge eines interessanten Gesprächs. Zwei deutsche Floristinnen, ein junges Mädel und ihre ältere Kollegin, unterhielten sich an der Bushaltestelle. Da sagte die Kleine plötzlich: „Was war heute bloß für ein komischer Tag! Den ganzen Morgen kamen Russen bei uns vorbei und haben mir alle Blumen im Laden abgekauft. Dabei ist der Valentinstag doch schon längst vorbei! Was hat das Ganze zu bedeuten?“
„In unserer Filiale war die gleiche Geschichte“ stimmte die andere Kollegin ihr sofort zu. Rosen, Tulpen, Nelken. Alles weg. Der Preis spielte keine Rolle.
„Wie kommt das nur?“ hörte die Jüngere nicht auf zu staunen. „Und was haben sie mit all diesen Blumen überhaupt vor?“
„Keine Ahnung! Da fragst du mich etwas! Vielleicht drehen die Russen im Frühling einfach durch!“ antwortete die Ältere und zuckte nur ratlos mit den Schultern. Dann stiegen die Beiden in den Bus ein.

Ich blieb an der Haltestelle zurück und musste spontan an ihr Gespräch von vorhin denken, das ich durch Zufall mitbekommen hatte. Ihre aufrichtige Verblüffung über die Scharen von russischen Männern, die heute Morgen alle Blumenläden in der Stadt leergekauft haben, brachte mich zum Schmunzeln. Ich sah darin nichts Komisches, geschweige denn Außergewöhnliches, denn ich wusste genau woran es lag. Anders als die beiden Floristinnen, die sich bestimmt noch den Kopf deswegen zerbrachen. Sie ahnten nicht, wie einfach doch die Erklärung dieses „Phänomens“ war und dass Deutschland auch etwas damit zu tun habe. Wenn auch indirekt.
Und so war dieser Frühlingstag für sie kein besonderer Tag, sondern nur ein Tag wie jeder anderer. Eine schwarze Zahl im Kalenderkästchen, die sie näher ans Wochenende, an den Urlaub oder den Ruhestand brachte. Aber das war es dann auch schon. Sie maßen diesem Tag überhaupt keine Bedeutung zu. Wie schade!

[center]XXX[/center]

In meinem alten Leben, wurde dieser Tag im sowjetischen Abrisskalender immer fett und rot markiert. Er war das Symbol des Frühlings, der Weiblichkeit und der Gleichberechtigung, aber auch ein freudiges Ereignis, auf das man sich schon im Vorfeld riesig gefreut hatte. Der 8. März - der Internationale Weltfrauentag. Einer der schönsten Nationalfeiertage überhaupt und zwar sowohl in der Sowjetunion als auch in Russland.
Dabei war es ausgerechnet eine Deutsche - Clara Zetkin, die diesen Feiertag nach Russland „exportierte“, wo er seitdem einen Kultstatus genießt. Nicht der einzige Fall von „deutschem“ Einfluss in die russische Politik und Geschichte. Man denkt dabei nur an die marxistisch-kommunistische Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels, die zur Großen Russischen Oktoberrevolution und der Spaltung der Welt in zwei ideologische Lager führte.

Ursprünglich als Protest und Wahrzeichen gedacht, verlor der Weltfrauentag in der UdSSR allmählich seinen sozialistisch-revolutionären Hintergrund und wurde mit der Zeit immer mehr zu einer netten Mischung aus Valentins- und Muttertag. Ende der 80-er Jahre erinnerte sich kaum jemand mehr in der Sowjetunion an seine legendäre Gründerin oder an die Arbeiterinnen der kleinen New Yorker Textilfabrik, die am 8 März 1857 gegen Niedriglöhne und schlechte Arbeitsbedingungen auf der Straße protestierten und Clara Zetkin dazu bewegten, den Tag ihrer Revolte bei der 2. Internationalen Konferenz der sozialistischen Frauen in Kopenhagen als Internationalen Weltfrauentag und Symbol für den Kampf um die Gleichberechtigung vorzuschlagen.

Weil alle Männer und Frauen in der Sowjetunion laut Verfassung quasi „automatisch“ gleichberechtigt waren, durfte vom Kampf um die Rechte keine Rede mehr sein. Deshalb musste die Frau mehr in den Vordergrund rücken und sich öffentlich ehren und huldigen lassen. Da der 8 März für alle ein arbeitsfreier Tag war, fanden die Ehrungszeremonien und Feierlichkeiten bereits am Vortag statt. Und zwar in allen öffentlichen Einrichtungen des Landes. Nach der Festansprache bekamen alle weiblichen Mitarbeiterinnen kleine Geschenke und Blumen von der Werkleitung oder der Gewerkschaft überreicht. Auch gehörte es zur Tradition zum 8 März ein Konzert oder eine Kulturveranstaltung zu Ehren der weiblichen Belegschaft zu organisieren. In den regionalen Großstädten wurden zu diesem Anlass oft berühmte Schriftsteller, Dichter, Sänger, Tänzer oder Schauspieler aus Moskau engagiert. Richtig gearbeitet wurde nicht. Anschließend traf man sich mit den Arbeitskollegen am reichlich gedeckten Tisch um gemeinsam zu feiern. Jeder brachte etwas mit. Hausgemachte Marmelade, selbstgemachte Torte, kalte Vorspeisen, Pralinen, Obst oder Gebäck. Natürlich wurde dabei auch nicht auf Wodka, Wein oder Sekt verzichtet. Ohne die sind Russen keine Russen.
In der Schule lief es ähnlich, nur ohne Alkohol. Einer der Schüler, der mit der besten Schrift, schrieb kalligrafisch den 8 März an die Schultafel. Zur Eröffnung der Unterrichtsstunde gingen alle Jungs abwechselnd nach vorne und trugen laut Gedichte und Texte vor, die den Frauen und dem 8. März gewidmet waren oder hielten eine kurze Festansprache ab. So verlangte es die Tradition. Alle Kinder hatten ihre Paradeuniform an. An dem Tag trugen die Mädchen weiße Schürzen und Schleifen im Haar, statt Schwarz, wie üblich. Die Knaben mussten ein weißes Hemd anziehen. Die dunkelblauen Roben der Jungen und braunen Schulkleider der Mädchen wurden beibehalten, da sie sowohl für die Festanlässe als auch für den normalen Schullalltag als Standartbekleidung vorgesehen waren. Ebenso auch das berühmte, rote Halstuch, das das Blut der gefallenen Revolutionäre symbolisierte.

Danach bekam die Klassenlehrerin, wie jedes Jahr, einen riesigen Blumenstrauß und ein Geschenk im Namen der Klasse überreicht. Meist teure Pralinen, dazu ein seltenes Buch oder etwas, was zu den Mangelwaren zählte: ein Teeservice zum Beispiel. Natürlich sollte eine solche Aktion nur als ein kleines „Dankeschön“ und auf keinen Fall als „Bestechung“ verstanden werden. Ein Schelm, der dabei etwas Böses denkt.

Geschenke gab es nicht nur für die Klassenlehrerin. Auch unsere Mitschülerinnen bekamen eine Kleinigkeit. Jeder Junge musste für seine Tischnachbarin etwas mitbringen. Die Art des Geschenkes wurde dem Mitschüler selbst überlassen. Man entschied sich meistens für etwas Praktisches: Buntstifte, Schleifen, Bücher oder Etuis. Ein typisches Geschenk zum 8 März. Wir - Jungs -nutzten den 8. März gerne als Vorwand, den Schulunterricht zu schwänzen, um (wie edel) … frische Blumen vom Markt für die Mädchen zu bringen, wofür je nach Dreistigkeit der Schüler… 2 bis 3 Stunden „notwendig“ war.

Nach dem Unterricht traf man sich wieder zusammen zu einem „Ogonek“. Ein Begriff mit dem man im Russischen so etwa wie eine Betriebsfeier meint. Wie bei Erwachsenen wurden auch hier sämtliche Leckereien von zu Hause mitgebracht und eine Tafel gedeckt. Die wenigen Glücklichen unter uns, die einen sowjetischen oder chinesischen Kassettenrecorder besaßen, (es waren nur drei), brachten gnädig ihr Gerät in die Klasse mit. Dann wurde zu Sowjet Pop Songs und Modern Talking Hits leidenschaftlich getanzt. Die anwesenden Lehrer hatten die Aufsicht. Sie mussten Raufereien verhindern und darauf achten, dass ältere Schüler kein Alkohol in die Schule schmuggelten. Es wurde gelacht, gegessen und gefeiert. So hatten sowohl Mädchen als auch Jungs gleichermaßen viel Spaß an dem Tag.

Nicht nur im öffentlichen Leben, auch privat, wurde jede Frau und jedes Mädchen, jede Mutter, Großmutter, Schwester, Ehefrau und Freundin am 8. März zur Königin für einen Tag. An diesem Tag war die Hausarbeit, Abwasch, Kochen und Putzen, die Domäne der Männer. Sowohl Mädchen als auch Knaben malten für ihre Mütter und Großmütter Bilder oder schenkten Basteleien, die sie zu diesem Tag in der Schule extra angefertigt hatten. Auch durfte man als Mann der Frau keinen Wunsch oder Bitte abschlagen. Und so mussten alle Versprechungen des starken Geschlechts, mit denen man die Ehefrauen ein ganzes Jahr lang „abgespeist“ hatte, an diesem Tag ohne Wenn und Aber eingelöst werden: von der Reparatur eines defekten Wasserhahns bis zum Kauf von einem neuen Mantel, Parfüm oder Schmuck, Dinge, die jede Frau, ob im Westen oder Osten, immer mag.

Beim Thema Geschenke musste man als Mann viel Großzügigkeit zeigen, sowie das notwendige Geschick beweisen, die (im Sowjethandel kaum vorhandene aber umso mehr begehrte) Mangelware zum besagten Tag für seine Liebste beschaffen zu können, was für die Frau wiederum als Maß und Beweis dafür galt, wie viel sie ihrem Mann bedeutet… Mit allen daraus folgenden Konsequenzen… Man war deshalb immer gut beraten, die Dame seines Herzens am 8. März in allen Belangen zufrieden zu stellen, um nicht eine Familienkrise für den Rest des Jahres zu riskieren. Geschenke, Blumen, galante Manieren, zärtliche Worte und Liebeserklärungen. Der Frau gehörte das gesamte Paket. An diesem Tag durfte nichts schiefgehen und nichts fehlen.

Ganz begehrt als Geschenk waren selbstverständlich alle Waren aus dem Ausland. Ich erinnere mich noch heute an den Traum aller sowjetischen Frauen - das französische Parfüm Climat aus dem Haus Lancôme, das in der Sowjetunion in den 70-er zwar streng limitiert, aber immerhin zu kaufen war. Ein Mitbringsel, das das Herz jeder Frau garantiert zum Schmelzen brachte, wovon auch der Ehemann indirekt profitierte.

Französische Lycra-Strümpfe, italienische Damenschuhe und österreichische Stiefel standen genauso hoch im Kurs. Ebenso wie jede Art von ausländischen Kosmetika oder Körperpflegeprodukten. Wer das nötige „Kleingeld“ besaß und bei seiner Ehefrau richtig „punkten“ wollte, schenkte ihr Goldschmuck, ein Abendkleid oder Naturpelz: Nerzmantel oder Mütze. Natürlich waren alle diese Geschenke nicht ohne gewisse Anstrengungen und Beziehungen im Handel zu bekommen. Ja und teuer genug auch noch.
Wem es doch gelang, war die Gunst und die Dankbarkeit seiner Gattin für lange Zeit gesichert. Diese trug die Geschenke stolz zur Schau, um aller Welt zu zeigen, welches Glück sie als Frau hatte, einen solch guten „Versorger“ zum Mann zu haben. Alle anderen Pechvögel, deren Männer weniger Glück und Geld hatten, mussten sich mit deutlich bescheideneren Geschenken wie Pralinen, Bücher, Schallplatten oder anderen Produkten der heimischen Wirtschaft zufriedengeben. Ein Blumenstrauß war allerdings für alle ein Muss!

Schon früh am Morgen machten sich alle Männer von jung bis alt auf die Jagd nach Blumen für ihre Liebste. Wo wir wieder bei unseren beiden Floristinnen von vorhin sind. Das wussten die Blumenverkäufer, die in meiner Region traditionell aus dem Kaukasus stammten, gut auszunutzen und trieben die Preise bewusst in die Höhe. Daher kostete der Strauß oft, je nach Größe und Blumenart, fast ein Zehntel des normalen Monatsverdienstes. Da aber an diesem Tag niemand ohne Blumen zu Hause erscheinen durfte und wollte, wurde jeder Preis und jede Qualität wortlos akzeptiert. Hauptsache, man kehrte mit einem Blumenstrauß unter dem Arm zurück. Hier galt genau wie im Westen die goldene Regel der Marktwirtschaft: je größer die Nachfrage umso höher der Preis.

Auch mein Vater kam abends mit Blumen nach Hause und brachte Geschenke für meine Großmutter, meine Mutter, und meine Schwester. Dann wurde die riesen Biskuittorte Napoleon genüsslich liquidiert, die meine Mutter trotz des Feiertages (an dem sie eigentlich „frei“ hatte), für uns liebevoll zubereitete. Wir feierten im Familienkreis, wie jede andere sowjetische Familie an diesem Abend. So war der 8 März in der Sowjetunion.

[center]XXX[/center]

Als ich nach Deutschland kam, staunte ich nicht schlecht, als ich am 8. März keinen einzigen deutschen Mann mit einem schicken Blumenstrauß nach Hause laufen sah. Zwar sagte die Sprecherin in der Tagesschau beiläufig etwas von einem „Welttag der Frau“, aber diese Meldung war für die ARD Redaktion nicht einmal eines Videobeitrages wert. Dann ging man sofort zum Sport über. Kein Musikkonzert. Keine Sondersendung. Keine Ansprache des Kanzlers. GAR NICHTS.

Dabei hat man uns drüben doch die ganze Zeit weiß gemacht, dass der 8. März ein… INTERNATIONALER Feiertag wäre. Und bedeutet international etwa nicht weltweit? Davon war hier nichts zu spüren. Niemand gratulierte den Frauen öffentlich, machte ihnen Komplimente oder schenkte Blumen oder Geschenke. Der 8. März war in Westeuropa ein ganz normaler Arbeitstag. Ich war enttäuscht und bestürzt zugleich. Hat uns die sowjetische Regierung etwa die ganze Zeit bewusst angelogen? Das mit dem International, meine ich.

Keineswegs, aber…Was der Staat uns damals verschwiegen hat, war: International? Ja! Aber…in der Mongolei, Vietnam, Burkina Faso, Eritrea, Angola oder Uganda…Nicht in Deutschland, nicht in England, nicht in Frankreich. Dort war der 8. März KEIN gesetzlicher Feiertag. Mit der Bezeichnung International hat man dabei schon ein wenig übertrieben.
Diese feierliche Stimmung, die ausgelassene Freude und die pompösen Festlichkeiten, an die ich in meinem Geburtsland von Kindesbein so gewöhnt war, fehlten mir hier plötzlich. In solchen Momenten lässt sich das Gefühl der Fremde und der Nostalgie plötzlich besonders deutlich spüren. Auch war mir unbegreiflich, warum man in Deutschland, einem Land, in dem die Emanzipation und die Gleichberechtigung ganz oben auf der politischen Agenda stehen und man auch sonst akribisch darauf achtet keine, auch nur die kleinste, Diskriminierung zu zulassen, gerade ein solch bedeutendes Ereignis für Frauen… völlig ignorierte. Und überhaupt. Es muss doch irgendeinen Tag in Deutschland geben, an dem die Frau genau wie bei uns geehrt wird. „Gar nicht“, geht GAR NICHT!

Natürlich musste ich diese Gedanken und Überlegungen sofort mit jemandem teilen. Eine bekannte Deutsche, der gegenüber ich meinen Frust von der Seele redete und dabei, „wie toll der 8. März in der UdSSR gefeiert wurde“, beschrieb, ließen meine Worte völlig kalt und unbeeindruckt.

„Ich denke, das liegt daran, dass der 8. März etwas mit Sozialismus und Revolution zu tun hat. Darum hat sich dieser Feiertag bei uns…nicht durchgesetzt“ erklärte sie mir. „Aber ich verstehe nicht, warum diese Äußerlichkeiten für euch so wichtig sind?“ sagte sie anschließend nachdenklich. „Findest du nicht, dass es irgendwie falsch, ja sogar heuchlerisch ist, einen Tag im Jahr die Frau auf Händen zu tragen… und die restlichen 364 völlig zu ignorieren und zu vernachlässigen? Außerdem stimmt es nicht, dass die Frau bei uns nicht oft genug „geehrt“ wird. Was ist dann mit Valentinstag oder Muttertag? Im Übrigen brauche ich persönlich keinen Feiertag, an dem mein Mann das Geschirr spült und mir sagt, ich wäre etwas Besonderes. Ich wünsche mir lieber, dass er diese Arbeit immer mit mir teilt und mich seine Liebe jederzeit spüren lässt. Mir sind die Taten wichtiger als dieses leere Geschwätz und die Augenwischerei. Ich will immer eine Königin für meinen Mann sein und nicht wie bei euch, nur für einen Tag“.
Ihre Äußerungen versetzten mir einen schmerzvollen Stich. Vor allem Worte wie „Geschwätz“ und „Augenwischerei“ erschienen mir dabei besonders respektlos und verletzend. Ich war wütend und hielt eine solche Reaktion für einen weiteren Beweis dafür, dass der „nackte deutsche Pragmatismus“ und die „gefühlvolle russische Seele“ sich nie und nimmer anfreunden würden, wollte jedoch aus Achtung vor ihrem Alter und unserer Freundschaft, diesen gefährlichen Disput besser nicht weiter vertiefen. Stattdessen redete ich mir ein, meine Bekannte wäre einfach nur neidisch oder womöglich sogar leicht russophob. Schließlich haben die Jahre des Eisernen Vorhangs bei jedem von uns Spuren hinterlassen.
Zu Hause und schon etwas beruhigt, dachte ich erneut über ihre Worte nach. Ich musste zugeben, dass sie in vielerlei Hinsicht womöglich doch Recht hatte. Auch wenn die Frau im Sozialismus als „befreit“ und „gleichberechtigt“ galt, war die UdSSR trotzdem ein“ Männer-Staat“ mit überwiegend traditionellen Werten. Der Mann war für Handwerkerarbeiten und Geldverdienen zuständig. Die Frau kümmerte sich um Kochen und Hausarbeit. Niemand stellte diese Rollenverteilung in Frage, obwohl die Frauen genau wie die Männer berufstätig waren. Der 8. März war die Ausnahme. Aber wem nutzte diese übertriebene Galanterie, wenn der gleiche Tellerberg am 9. März den Ehemann auf dem Sofa auf einmal nicht mehr kümmerte. Vielleicht hatte sie tatsächlich recht. Vielleicht ist der 8. März nur eine schöne aber nutzlose Symbolik.

Die russischen Frauen die ich kenne, sehen das Ganze völlig anders. Sie finden die Gleichberechtigung in Deutschland gut, wollen auf den 8. März aber trotzdem nicht verzichten. „Die Tatsache, dass die Frauen in Deutschland heute die gleichen Rechte wie die Männer haben, ist zweifellos gut. Das bedeutet aber nicht, dass man uns deshalb sofort wie „einen Mann“ behandeln muss. Hier hilft der Mann zwar oft im Haushalt, kocht oder schiebt den Kinderwagen durch die Gegend, (das tut ein russischer Mann nicht, noch nicht) aber im Gegenzug lässt man in Deutschland die Frau seelenruhig allein die schweren Kisten im Laden schleppen oder man dreht sich weg, wenn unsereins plötzlich feuchte Augen bekommt. Niemand tröstet dich, hält dir die Tür auf, oder macht dir ein Kompliment. Du bist unsichtbar. Du bist geschlechtslos. Du bist eine gottverdammte Amazone. Das ist aber nicht der Sinn und Zweck der Gleichberechtigung. Wir wollen gleichberechtigt sein… und dabei trotzdem Frauen bleiben, uns an dem Tag ganz als Frau, als ein höheres Wesen, als Krone der Schöpfung fühlen. Schöne Geschenke bekommen und die Bewunderung der Männerwelt empfangen und genießen. Unsere Männer haben hier auch versucht, den 8. März plötzlich zu „vergessen“. Bloß um keine Geschenke kaufen zu müssen. Aber diese Nummer zieht bei uns nicht. Das haben wir denen ganz schnell ausgetrieben. Auch sind der Valentinstag und der Muttertag für uns nicht dasselbe. Denn was soll bitte schön eine Frau tun, die noch keinen Mann oder kein Kind hat? Die Arme fühlt sich doch sofort ausgegrenzt und benachteiligt. Nein! Niemals! Der 8. März ist und bleibt für uns ein MUSS“ beklagten sie sich bei mir.

Dabei gerate ich als Mann und Einwanderer automatisch in einen Interessenkonflikt. Soll man sich im Namen der Integration den Bräuchen der neuen Wahlheimat ohne Wenn und Aber restlos fügen oder doch die eine oder andere Tradition aus dem alten Leben beibehalten? Was ist richtig? Keine leichte Entscheidung. Denn ich möchte es am liebsten allen Recht tun. Als Jemand, der sich um eine „absolute“ Integration bemüht, bekomme ich oft genug mit, wie die Einheimischen sich über die mangelnde Anpassungsfähigkeit der Neubürger im Alltag beklagen. Oft zurecht. Gleichzeitig fehlt es mir selbst nur sehr schwer, diese wenigen Brücken, die mich noch mit dem Leben von damals verbinden, eines Tages für immer aufzulösen.
Am 8. März bekommen meine Mutter, meine Frau und meine Schwester immer ein kleines Geschenk von mir überreicht. Ich bekenne mich ebenfalls „schuldig“, bei dem jährlichen „Überfall“ der russischen Männer auf den deutschen Blumenshop am 8. März fleißig „mitzumachen“ und bitte dich, lieber Leser, dabei gnädigst um Verständnis. Nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich mich von dieser Tradition aus meinem alten Leben, auch hier in Deutschland nicht trennen möchte. Das hat nichts mit fehlendem Willen zur Integration oder Ignoranz zu tun. Sie ist eine von den „Guten“….
.
[center]Ende
Roman Dell
17.02.2017-04.03.2017[/center]
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Beitrag von zuzu »

Nach einer kurzen und kreativen Pause (April-Geschichte fiel aus) melde ich mich bei den Lesern der Gelsenkirchener Geschichten mit einer brandneuen Erzählung zurück. In der heutigen Ausgabe mischen sich 2 Genres. Es ist eine Auswanderungsgeschichte, aber auch eine Lovestory, die in Wahrheit passiert ist.
Im Übrigen würde es mich sehr freuen, wenn der eine oder andere User gelegentlich seine Meinung zu den geposteten Geschichten äußern würde, so dass ein Meinungsaustausch zwischen mir und der Leserschaft entsteht. Ihre Meinung ist mir wichtig.
Liebe Grüße
Ihr Roman Dell


[center]Erste Liebe

(Kurzgeschichte)
[/center]

[center]„Die größte Liebe ist immer die, die unerfüllt bleibt. „

Peter Ustinov

XXX[/center]

Er wurde irgendwann Mal von den milden Strahlen der Sonne geweckt. Die letzten im Oktober, bevor die Kälte und der Regen des Novembers einsetzen. „Es scheint ein wunderschöner Tag zu werden“ ging ihm dabei rasch ein Gedanke durch den Kopf, als er an diesem Samstagmorgen in seiner Wohnung aufwachte und kurz danach auf die Waage im Badezimmer stieg.
Er war allein. Seine Frau musste heute früh raus. Sie arbeitete in einem Mode- und Schmuckgeschäft und hatte ihre Schicht mit der Kollegin getauscht. Sonst wären sie gemeinsam nach Düsseldorf verreist, hätten dort in ihrem Lieblingscafé Alte Bastion an der Uferpromenade genüsslich gefrühstückt und dabei die spiegelglatte Wasserfläche des Rheins angeschaut. Der Fluss, der sie beide faszinierte.

Er stellte mit Genuss fest, dass seine zahlreichen Versuche abzunehmen, endlich erste Früchte trugen, auch wenn er die Nacht davor „gesündigt“ hatte. Schon wieder. Ein Glas Rotwein, Knoblauchbaguette und ein saftiges Kotelett. Welcher Mann könnte dieser Versuchung widerstehen?

Eine kalte Dusche vertrieb die Reste von Alkohol und Schlafmüdigkeit aus seinem Körper. Er fühlte sich frisch und war voller Tatendrang. Kurz danach schellte der Postbote an seiner Tür und übergab ihm ein Paket, auf das er schon seit einer Woche sehnsüchtig gewartet hatte, weil das Buch darin ein Meisterwerk und gerade in aller Munde war und er vor Neugier platzte, endlich die ersten Seiten davon zu lesen. Doch vorher wollte er noch ein wenig arbeiten. Das heißt, ein paar Kapitel seines eigenen Romans schreiben, gehüllt in einem warmen Bademantel und mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Stellt man sich einen Schriftsteller etwa anders vor?
Er schätzte die „kleinen Freuden“ des Lebens wie leckeres Essen, Wein, Kaffee, gute Bücher, Kino oder Musik, die den grauen Alltag der Menschen allgemein (und seinen persönlichen), farbenfroher und erträglicher machten, wenn man die Welt um sich herum mit den Augen eines Pessimisten sieht.

Abgesehen davon, zählten Kaffee und Wein ohnehin zu den klassischen Getränken seiner Zunft. Der erste hielt alle Künstler und Schriftsteller wach, der zweite sorgte für gute Laune und Inspiration.

An Inspiration mangelte es ihm nicht, aber einen kleinen Muntermacher, wie jetzt, konnte er immer gut gebrauchen. Der Kaffee half ihm, sich beim Schreiben besser konzentrieren zu können. Der Rotwein förderte sein Gemüt und seine Inspiration. Noch hatte er keinen Grund unzufrieden zu sein. Überhaupt nicht. Alles lief gut. Vielleicht zu gut. Er war bestens gelaunt, hatte nicht zugenommen und seine Büchersendung war pünktlich angekommen. Dieser Tag versprach ein wunderschöner, nein, ein perfekter Tag zu werden… wäre da nicht diese blöde Gewohnheit, vorher noch schnell sein E-Mail- Fach zu prüfen, bevor er stundenlang in der Arbeit versinkt.

Die E-Mail, die er an diesem Morgen in seinem Postfach entdeckte, enthielt nur wenige Sätze aber sie reichten aus, um seine Stimmung für den Rest der Woche zu ruinieren. Als er darin plötzlich über ihren Namen und die Zahl 2004 stolperte, verstummte er schockiert.
Der Name im Brief gehörte einem russischen Mädchen in das er einst verliebt war.
Die Zahl 2004- war das Jahr, in dem sie starb…

XXX

Es war nie seine Absicht, an der Vergangenheit zu rütteln, sich mit jenem Abschnitt aus seinem alten Leben zu beschäftigen, das für ihn längst vorbei und abgeschlossen war und dabei diese wehmütigen Bilder und Erinnerungen hochkommen zu lassen. Nein. Das tat jemand anderes für ihn. Eine gemeinsame Bekannte, auf die er vor knapp einer Woche beim Surfen in den russischen sozialen Netzwerken gestoßen war, hatte ihm diese „Hiobsbotschaft“ überbracht, nachdem er, in einem Anfall von Sehnsucht und Nostalgie, ein paar höfliche Sätze zurückgeschrieben und dabei irgendwann Mal nach ihr gefragt hatte.

Er war neugierig und wollte alles über sie wissen. Ob es seiner Jugendliebe gut ging, was sie jetzt machte, wie sie aussah. Dabei hatte er die ganze Zeit etwas Banales zu hören erwartet. Dass sie jetzt mit einem großzügigen und liebevollen Kerl verheiratet war, gut bezahlte und sichere Arbeit hatte und eine Tochter und einen Sohn zu Hause großzog. Irgendetwas in der Art. Ein Standardlebenslauf. Aber doch nicht so etwas!

Die Antwort, die ihn aus dreitausend Kilometer Entfernung über das Glasfaserkabel in Deutschland erreichte, enthielt kaum Informationen. Die gemeinsame Freundin schrieb sehr wortkarg und abgehackt, wie jemand der über sein Unglück noch nicht drüber weg ist, auch wenn dieses schon vor Jahren geschah. Er erfuhr keine Details. Nur dass seine Jugendliebe krank gewesen war… eine angeborene Erbkrankheit und dass sie jung starb… sehr jung…an einem Nierenversagen... in 2004.

Er musste die Stellen 2004 und starb im Brief ein paarmal lesen und sie fett hervorheben, bevor ihre schreckliche Bedeutung sein Bewusstsein erreichte, dort wie eine Zeitbombe einschlug.

„SEINE JUGENDLIEBE WAR TOT. Es gab sie nicht mehr“, hämmerte es in seinem Kopf. Schon seit 2004 nicht mehr, während er ahnungslos und unbekümmert im Westen lebte und sich an das Luxusleben hier schnell gewöhnte. Ein Leben, das hier eigentlich die Norm war und einem doch wie Luxus erschien, wenn man nicht von Anfang an, diesem gesegneten Stück Paradies auf Erden angehörte, sondern, (genau wie er) aus einer anderer Welt hierhergekommen war.
Er taumelte wie benebelt zum Wohnzimmerschrank und begann hastig darin zu wühlen, bis seine Hände ein altes Fotoalbum daraus holten. Er klappte das Album auf und schlug die erste Seite auf. Dann die zweite, dritte, vierte und zwar so lange, bis er das richtige Foto fand. Ein schwarzweisses Amateurbild, etwa in der Mitte des Albums. Es zeigte einen strahlenden jungen Mann im weißen Hemd und schwarzen Pullunder, der von einem Mädchen ein Buch entgegennahm.

Das Foto war alt und auch nicht besonders scharf. Trotzdem war ein wichtiges Detail darin immer noch gut zu erkennen. Die Augen der Beiden. Sie sagten mehr als tausend Worte.
Sie mochten sich. Das war ziemlich offensichtlich. Ihm entging nicht dieses Feuer in dem Blick des Jungen und die Milde und die Rührung in den Augen des Mädchens, die ihre Zuneigung und ihr Interesse für einander sofort verrieten, auch wenn sie sich auf dem Bild sehr förmlich die Hände reichten und ihre Körperhaltung leichte Steifheit und Schüchternheit erkennen ließ. Den Beiden fehlte noch die vertraute Routine im Umgang miteinander, die jedes Paar erst mit der Zeit reinbekommt, aber sie könnten schon bald ein solches Paar werden. So der Eindruck von dem Bild.

Er drehte das Foto kurz um. Auch wenn die Rückseite des Bildes keinerlei Informationen zu Personen, Datum und Ort aufwies, wusste er trotzdem ganz genau, wann und wo diese Aufnahme gemacht wurde und brauchte dafür nicht einmal kurz zu überlegen. Der Junge auf dem Bild,- das war er selbst und das Mädchen mit kastanienbraunen Haaren - seine verstorbene Geliebte. Aufgenommen in einer kleinen Künstlerwerkstatt am 22 März, drei Tage bevor er Russland und sie für immer verließ…

XXX

Er erinnerte sich ungern an dieses Kapitel seines Lebens, die berüchtigten 90-ger, das ihm nach so vielen Jahren im behüteten Deutschland inzwischen nur noch wie ein Albtraum vorkam. Eine Zeit des Umbruchs, der Gewalt und der Willkür, die sein Heimatland damals erschütterten. Der Osten zerfiel wie ein bröseliger Kuchen. Die ehemaligen Bündnispartner des Warschauer Paktes erklärten einer nach dem anderen ihre Unabhängigkeit und lösten sich von dem „Großen Bruder“. Zuerst das befreundete sozialistische Ausland: Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei. Dann ging es ans“ Eingemachte“: die ehemaligen Unionsrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Georgien, die baltischen Länder und die Ukraine. Überall herrschte Chaos. Das Chaos, das man sich zu Nutze machte.

Die Unterwelt teilte die leckeren Filetstücke der Wirtschaft und der Industrie des größten Arbeiterstaates der Erde unter sich auf. Und ihre Gier und ihr Hunger waren unersättlich. Der Präsident und die Minister rangen um Kabinettsposten und Wohlwohlen des Westens, der jetzt schadenfroh auf den einstigen Rivalen von oben herabschaute.

An das Volk wurde wie immer nicht gedacht. Denn der Staat und die Staatlichkeit existierten nur auf dem Papier. Die Industrie und die Wirtschaft lagen am Boden. Die Menschen bekamen ihre Renten und ihre Löhne nur unregelmäßig ausgezahlt. Oft mit einer halbjährigen Verspätung. Alles, sowieso schon, mickrige Beträge, die in der Zwischenzeit durch die Inflation nahezu vollständig aufgefressen und daher nutzlos waren.

Man verscherbelte sein letztes Hab und Gut für einen Appel und ein Ei auf dem Markt, nur um halbwegs über die Runden zu kommen. Und als ob das nicht genug wäre, kam irgendwann mal der Krieg dazu. Der Krieg in Tschetschenien. Ein brutales und sinnloses Gemetzel.
In seiner Stadt waren bereits die ersten Särge mit getöteten Rekruten eingeliefert worden, die nach einer kurzen und dürftigen Grundausbildung zur Befriedung der Rebellen von Jelzin in den sicheren Tod geschickt wurden. Wer nicht dem Kriegsgott als Kanonenfutter zum Fraß geworfen wurde und sein Militärdienst außerhalb von „Brennpunkten“ leistete, hatte es nur etwas besser, als seine Kameraden im Kaukasus. Ihm flogen zwar keine Kugeln um die Ohren, dafür musste er aber die Schläge und Misshandlungen der Altgedienten über sich ergehen lassen. Tag für Tag und das ein Jahr lang, bis man selbst zum Altgedienten wurde.

Im zivilen Leben ging es nicht weniger brutal zu. Jede Stadt Russlands wurde zur Hochburg der Kriminellen, die dort um Reviere und Macht kämpften und sich nur an das Gesetz des Stärkeren hielten. Ein normaler Mensch bedeutete für sie nur ein Opfer und Freiwild.
Diese Willkür der Gewalt machte ihn sprachlos und schüchterte ihn ein. Er erkannte seine Heimat nicht wieder. Wie war es nur möglich, dass dieses idyllische Land seiner Pionier- Kindheit sich so leicht und so schnell in eine Hölle verwandelte.

Jeder, der Verwandtschaft im Ausland hatte (früher ein großes Karrierehindernis und Grund zur Sorge) oder einfach nur die Möglichkeit das Land zu verlassen besaß, durfte sich jetzt glücklich schätzen. Er konnte den Antrag auf Ausreise stellen und diesem Chaos und der Willkür hier womöglich entkommen. Was man auch versuchte. Massenweise. Vor den Konsulaten der USA, Israels und Deutschlands bildeten sich lange Warteschlangen von verzweifelten Menschen.
Auch seine Familie hoffte, das Land in Kürze zu verlassen. Sein Vater hatte vor einiger Zeit ebenfalls den Antrag bei der deutschen Botschaft in Moskau gestellt. Er rechnete trotzdem jederzeit damit, schon bald in die Armee einberufen zu werden, sollte die wundersame Rettung, der Aufnahmebescheid aus Deutschland, doch nicht bis zu seiner Volljährigkeit eintreffen und hatte panische Angst vor diesem Tag. Einem Tag, an dem es für ihn entweder in den Krieg oder in die Kaserne ging, aber er hatte Glück…

XXX

Als das Telefon nachts in seiner Wohnung klingelte, wusste er damals sofort, dass am anderen Ende der Leitung Deutschland war. Deutschland - ein Teil, das er in seinem Namen und seinem Blut trug. Deutschland – die letzte Hoffnung und der letzte Ausweg für seine Familie. Sein Vater nahm den Hörer ab.

Eine deutsche Verwandte väterlicherseits teilte seinem Vater im gebrochenen Russisch mit, dass über ihren Ausreiseantrag in Berlin positiv entschieden worden war und er spürte wie ihm bei diesen Worten das Herz in die Hose rutschte. Nun war es vorbei mit der Ungewissheit und dem Warten, jetzt war es wirklich offiziell: Sie werden bald nach Deutschland gehen. Bald. Sehr bald.

Danach ging alles sehr schnell. Einen Monat später traf der angekündigte Bescheid aus Berlin mit der Post ein. Es war ein schlichtes Papier in einer für ihn unverständlichen Sprache, das für ihn und seine Familie die Eintrittskarte in eine andere, bessere Welt werden sollte. Sein Vater kümmerte sich um alles. Das wenige Hab und Gut, das sie noch besaßen, wurde für einen Bruchteil seines Wertes an Freunde verkauft. Nach zweieinhalb Monaten waren sie startklar. Ihr ganzes Leben passte jetzt in 6 Reisekoffer. Bald ging es mit der Aeroflot-Maschine nach Deutschland. Für immer.

Seine Psyche kam mit diesem Wort und dieser Wende in seinem Leben überhaupt nicht klar. Er freute sich zwar insgeheim dem Militärdienst und den Schikanen der Altgedienten entkommen zu sein, aber der Preis dafür war sehr hoch. Zu hoch.
Er fühlte sich vom Schicksal überrumpelt. Noch bis vor wenigen Jahren war seine Heimat hier und er konnte sich kein anderes und besseres Zuhause als die Sowjetunion auf der Welt vorstellen. Und jetzt zwang das Leben ihn auf einmal, weg zu gehen. Die verdammte Politik hatte sein Leben in null Komma nichts komplett zerstört. Und was sollte jetzt aus seinen Plänen und Träumen werden? Er wollte doch immer Zeitungsreporter werden und Literatur und Journalistik in Rostow studieren. Das konnte er jetzt alles glatt vergessen. Schon bald würde sein Leben hier vorbei sein. Aus. Geschichte. Finito. Und er konnte nichts, überhaupt nichts, dagegen tun.

Er kam sich fast wie der Held aus Dem letzten Tag eines Verurteilten vor - der berühmten Erzählung von Viktor Hugo, die von den letzten Stunden eines verurteilten Mannes und seiner Gefühlswelt in Erwartung des Todes erzählte.
Er begann von seinem Leben hier Abschied zu nehmen. Aus heutiger Sicht ein totaler Unsinn, aber damals absolut richtig und verständlich. Schließlich hatte er noch die Mentalität eines sowjetischen Menschen, der die Auswanderung als letztes Mittel und ein Lebensdrama betrachtete, anstatt darin nur einen einfachen Wohnsitzwechsel zu sehen, der einem zukünftigen Besuch der alten Heimat oder sogar der Rückkehr keineswegs im Wege stand.
Er markierte die restlichen Tage im Kalender rot, die ihm bis zur Abreise nach Deutschland übrigblieben. Drei Wochen, in denen jeder Tag, jede Stunde, jede Sekunde bis zum Schluss verplant war. Für Menschen, die ihm alles bedeuteten und ihm sehr nah standen: Freunde, Kollegen und Verwandte, denen er unbedingt Lebwohl sagen wollte. Denn er wusste nicht, was ihn danach erwartete und ob und wann man sich wiedersehen würde. Fest stand nur, dass sein altes Leben hier, in drei Wochen, am Freitag endete. Der Samstag danach war noch in Dunkelheit gehüllt…

XXX

In jenem Jahr schien das Wetter genauso wechselhaft und verwirrt zu sein wie sein Geist. Die ersten Tage im März waren so sonnig und warm, dass er die meiste Zeit in einem Sommerhemd auf der Straße unterwegs war.
Nur eine Woche später fiel der Schnee. Dieser Schnee bedeckte jetzt die Straßen und Dächer der Häuser, während der leichte Frost ihm fies in die Wangen kniff. Höchste Zeit um einen heißen Tee zu trinken. Dafür fehlte ihm die Zeit.

Er hielt sich strikt an seinem Plan und arbeitete die „Abschiedsliste“ der Freunde ab. Heute waren die Kollegen vom städtischen Radiosender dran. Er lief durch die verschneiten und zugefrorenen Straßen der Innenstadt und dachte wehmütig an den alten Holzboden seiner ehemaligen Schule, den Geruch der Apfelbäume vor dem Haus seiner Großmutter und das verqualmte Büro der Zeitungsredaktion, in dem er die kurzen und gleichzeitig schönsten Stunden seines bewussten, jungen Lebens verbracht hatte, alles Dinge und Gerüche, die er jetzt schon vermisste, als er plötzlich eine weibliche Stimme hörte, bevor er das Mädchen selbst auf ihn zukommen sah.
„Wie schön, dass wir uns heute begegnen! Ich kann es immer noch nicht glauben. Ist das wirklich wahr? Wie schade, dass Sie uns bald verlassen! Ich werde Sie wirklich sehr vermissen“ -sagte sie.
Ihre Worte und ihre Offenheit irritierten ihn zunächst. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor er in dieser Fremden mit dem Aussehen einer “ Maid aus Smolny“- (*Institut für edle Mädchen im Zarenrussland) plötzlich die neue Volontärin in seiner Zeitungsredaktion erkannte, die dort seit Kurzem arbeitete.

Sie trug einen langen, dunkelbraunen Pelzmantel und einen weißen Schal und sah aus wie Die Unbekannte auf dem Gemälde von Kramskoi. Die Art wie die meisten Ausländer sich eine klassische Schönheit aus Russland vorstellen. Nur dass sie statt einem edlen Federhut eine Damenpelzmütze aus der sowjetischen Produktion auf dem Kopf trug. Weniger romantisch, aber dafür sehr praktisch.
Er konnte sich noch heute an ihre grünen Augen, ihr ovales Gesicht mit den geröteten Wangen und die Strahlen der Frühlingssonne erinnern, in denen ihr Haar schimmerte, als wäre das noch gestern gewesen. Ein hübsches Mädchen und sehr nett dazu.
Er war verblüfft, wie viel Mitgefühl, Sympathie und Zärtlichkeit sie in ihre Worte legte, die einem (für sie im Grunde) unbekannten Menschen galten. Worte, die ihr Bedauern zum Ausdruck bringen sollten und für ihn doch wie eine versteckte Liebeserklärung klangen.
Er kannte es bisher nicht, dass ein Mädchen so offen, beziehungsweise überhaupt, mit ihm sprach und fühlte sich bewegt und gerührt zugleich, dass es offensichtlich noch Jemanden gab, Jemanden außer seiner eigenen Familie, dem er wichtig war und etwas bedeutete. Jemanden von dem er bis heute gar nicht wusste.
Er hob seine Augen und sah in das Gesicht des Mädchens. Und dann war es um ihn geschehen…

XXXX

Noch Jahre später wurde er immer wieder von der Frage gequält, ob seine kurze Liebe damals eine Ironie des Schicksals oder doch ihr letztes Geschenk an ihn war. Ein Wundermittel, das ihm den Abschied und die Schmerzen der Trennung lindern sollte. Und dieses Mittel funktionierte!

Und plötzlich war sein Leben ein Zimmer voller Licht und kein Weltuntergang mehr. Ein Licht, dass jede Grau, jede Wolke, jeden traurigen Gedanken in seinem Herzen sofort wegjagte. Ihn nicht mehr an die verbliebenen Tage und an die baldige Abreise denken ließ.
Er besorgte sich die Telefonnummer von der gemeinsamen Bekannte, bei der seine Angebetete zurzeit einquartiert war und hing jeden Abend stundenlang an der Leitung, als hätte es die Stunden, die sie vorher mit Spaziergängen im Stadtpark verbracht hatten, überhaupt nicht gegeben.

Ein Teil in ihm machte ihm dauernd zum Vorwurf, diese kostbare Zeit hier, von der er im Grunde nur wenig hatte, jenen Menschen bewusst zu stehlen, die er schon bald und weiß Gott wie lange nicht sehen würde. Der andere Teil ermutigte ihn dazu. Ließ jede Vernunft und sein Gewissen für einen Augenblick ruhen.
Sie waren verliebt und versuchten das Unmögliche zu schaffen: die Zeit und sich selbst zu überlisten. Die Zeit, die ihnen mit jedem Tag davonlief. Diese wenigen Stunden gemeinsam auszuleben, als ob sie das ganze Leben, ihr einziges Leben, wären.
Er schenkte ihr das Buch Die Herrin des großen Hauses von Jack London. Sie verriet ihm welche Musik und welche Blumen sie gerne mochte und revanchierte sich mit einem winzigen schwarzweißen Passfoto von sich, das er seitdem wie ein Schatz und eine Reliquie in der Brusttasche seines Hemdes trug.

Am Abend vor dem Abschied, an dem das Foto in seiner Hand aufgenommen wurde, nahm er eine Kassette für sie auf. 90 Minuten, die er mit Gedichten, Worten, Wärme, Zuneigung, Liebeserklärungen und Versprechungen fühlte, die eine junge, romantische Seele in diesem Zustand der Trunkenheit von sich gibt. Am nächsten Tag sahen sie sich in der Künstlerwerkstatt zum letzten Mal wieder, wo eine Abschiedsfeier zu seinen Ehren stattfand.
Er hielt sich das Bild erneut vor den Augen und sah da etwas, was der Kamera damals verheimlicht geblieben war. Etwas, das dieses Leuchten in den Augen der Beiden auf dem Foto erklärte. Ein kurzer Moment, in dem er und sie allein im Zimmer geblieben waren. Er hatte gefühlt, dass er das unbedingt wagen und tun sollte…
„Ich würde dich gerne um etwas bitten“ hörte er damals seine aufgeregte Stimme im Raum sagen.“ Ich würde…Darf ich dich küssen?“
Ein leises Lächeln huschte über ihr Gesicht. Er sah wie ihre Augen sich mit Tränen und Wärme fühlten und wie Wasserperlen im gedämpften Licht des Raumes glänzten.
„Dummkopf!“ flüsterte sie zärtlich. “So etwas fragt man bei einem Mädchen nicht. Man tut das einfach!“ und hielt ihm geschickt ihre Wange hin, als seine Lippen frech ihren Mund zu berühren versuchten.

Ihre Haut war weich. Und sie roch so gut. Ein süßer Moschus, der ihn in eine Art Trance stürzte. Er hörte, wie sein Herz plötzlich wie verrückt zu schlagen begann. Von einem elektrisierenden Gefühl erfasst war, der ihm Leichtigkeit, Glück, Schwindel und Flügel verlieh. Alle Probleme und Herausforderungen der Welt mickrig und unbedeutend, nicht die Rede wert, erscheinen ließ.

Später, als er schon selber Geschichten schrieb, fragte er sich oft, warum die Menschen und Künstler im Laufe der Zeit den ersten Kuss, seine Reinheit und seine Bedeutung für die Liebe, nicht mehr genug zu würdigen wussten und die Liebe stattdessen nur als Begierde des Fleisches, als zwei nackte Gestalten sahen und verstanden, die sich wild und ungestüm im Bett herumwälzten. Es war doch mehr als das. Viel mehr.

Er würde dieses Gefühl, während seine Lippen ihre Wange berührten, das Pochen im Blut und die Schmetterlinge im Bauch, gegen nichts auf der Welt eintauschen wollen, weil diese Erfahrung zu kostbar und einmalig war und man es nur einmal so intensiv, so rein und so ehrlich, wie bei diesem ersten Mal empfinden würde, bevor auch dieses Teil des Lebens irgendwann mal zur Routine wird, langsam aber sicher an Bedeutung verliert.
„Darf ich auch? „fragte sie leicht errötend und presste schnell ihre Lippen gegen seine, bevor die Tür im Zimmer wieder aufging und man sie für ein gemeinsames Foto in den Nebenraum bat…



XXX
Und so war dieses schwarzweiße Foto an diesem Abend entstanden. Sie reichte ihm das Buch hin, während ihre Blicke sich nicht voneinander lösen konnten und sie noch einmal tun wollten, was soeben im Nebenzimmer geschehen war. Wieder und wieder, bis man genug von einander bekommt. Wie Schade, dass das Leben ein anderes Drehbuch für sie schrieb.
Es war Schicksal. Ihn selbst traf keine Schuld. Davon war er überzeugt. Sein erster Brief in Deutschland war, wie versprochen, an sie adressiert. Drei DIN-A- 4 Blätter voller Schnulze, Treueschwüre und pathetischer Worthülsen. Aber dann fing das Leben an, ihm Lektionen zu erteilen, die bitter und anders waren, als alles was er bisher über das Leben aus den Büchern und Romanen erfahren hatte.

Zum Beispiel, dass Menschen ihre Versprechungen und Treueschwüre, (die sie einst aus einem Impuls herausgemacht haben), im wahren Leben oft nicht einhalten können und es dafür verschiedene Gründe gibt. Die Zeit und die Entfremdung wären zwei davon.
Ihr erster Brief kam sehr schnell und war genau wie seiner. Der zweite traf nur wenige Wochen danach ein. Dieses Mal suchte er vergeblich nach Wärme und Sehnsucht zwischen den Zeilen, denn der Schreibstil ihres Briefes war nüchtern und beherrscht. Der dritte Brief erreichte ihn erst drei Monate später und wurde von der gemeinsamen Bekannten geschrieben. Er erkannte ihre Schrift.

Sie teilte ihm mit, dass es seiner Geliebten momentan nicht gut ging und sie deshalb eine Schreibpause einlegen möchte. Außerdem war sie sowieso in ihre Heimatstadt, irgendwo hinter dem Ural, zurückgekehrt. Sie würde sich selbst melden, wenn sie sich wieder gut fühlte. Er dürfe und solle ihr nicht mehr schreiben.
Er schrieb der Bekannten ein paar Zeilen zurück, obwohl ihm klar war, was ihr Brief und die Botschaft für ihn bedeuteten. Er war zwar jung, aber doch nicht dumm. Dann haben das Leben und die Zeit in diesem ewigen Kampf erneut gesiegt. Seine Gefühle und seine Liebe konnten ihrem gewaltigen Druck nicht länger standhalten. Es war so naiv und so dumm von ihm zu glauben, dass das Schicksal bei ihm eine Ausnahme machen würde.

Er hielt sich für den Grund ihrer Flucht. Wie töricht die Jugend ist, wie er nach der Email von heute feststellen durfte. Nun fügte sich das letzte Stück Puzzle im Bild zusammen, bevor das Gesamtbild zum Vorschein kam. Er fühlte sich traurig aber auch erleichtert.
Es war ihre Krankheit, die sie gezwungen hatte, den Briefkontakt zu ihm damals zu unterbrechen. Sie hatte ihre Gründe dafür gehabt. Weil sie ihn liebte und ihm nicht noch mehr wehtun wollte. Weil sie alles über ihre Krankheit im Vorfeld wusste. Weil ihr Schicksal von Anfang an besiegelt war, während er eitel und selbstgerecht seine Wenigkeit als möglichen Grund für ihre Kälte, ihre Distanz und ihre Flucht hielt. Er nicht wissen konnte, dass diese drei Märzwochen schon ALLES waren. ALLES, was das Leben ihnen damals bereit war zu geben. ALLES, womit sie jemals rechnen konnten.

Zu seiner eigenen Überraschung, konnte er diesen ersten richtigen Schicksalsschlag in seinem Leben gut einstecken und kam sogar ziemlich schnell drüber weg. Es war nicht die erste und sicher nicht die letzte Enttäuschung in seinem Leben. Er hatte viel Pech in der Liebe, bis er eines Tages doch noch die Liebe seines Lebens traf. Eine schöne Moskowiterin mit der er inzwischen glücklich verheiratet war.
Ja, es gab Tage in seinem Leben, an den er die Frauen hasste und regelrecht verzweifelt war, aber die Erinnerung an seine Jugendliebe half ihm jedes Mal, nicht die Hoffnung zu verlieren, diese traurigen Episoden in seinem Leben leichter durchzustehen, sobald er nur ihr Gesicht vor Augen sah und an ihren Kuss von damals dachte.

Manchmal fragte er sich, was sie jetzt gerade tat, und ob sie zusammen glücklich geworden wären, dabei lebte sie doch schon seit Jahren nicht mehr. Warum hatte er das nie, nie, gespürt?
Für ihn ging das Leben hier einfach weiter. In 2004 hatte er bereits seit 2 Jahren eine feste Einstellung, konnte einigermaßen gut Deutsch und verdiente nicht schlecht. Ihm fehlte nur das private Glück. Ihr fehlte das Leben.

Er hörte das Schloss in der Tür laut knacken und packte das Foto schnell weg. Die Uhr an der Wand zeigte 20 Uhr. Seine Frau kam von der Arbeit zurück. Sie trat ein. Eine schöne, modisch angezogene, sinnliche Frau, die er nach Jahren Ehe immer noch wie am ersten Tag liebte und begehrte. Ihre Anwesenheit riss ihn aus seinen Erinnerungen zurück und sorgte prompt für schlechtes Gewissen und Schuldgefühle. Er kam sich wie jemand vor, den man bei einem Seitensprung in der Öffentlichkeit ertappte. Dabei hatte er in Wirklichkeit doch nichts Unrechtes getan. Die Frau auf dem Foto war ein Teil seiner Vergangenheit. Der Frau in diesem Zimmer gehörten sein Leben und die Zukunft. Es war ihm trotzdem unangenehm, dass die Beiden - der Geist und der Mensch - in diesem Augenblick aufeinandertrafen, in diesem Raum gleichzeitig lebten. Das hat er niemals so gewollt.

Er musste sich deshalb am Riemen reißen, um diese Aufwühlung und das Chaos in seiner Seele gut zu verbergen, was ihm letztendlich doch nicht wirklich gelang. Sie merkte die Unruhe und die Last, die ihn quälten und stellte Fragen. Viele Fragen. Er versuchte zu scherzen und gab zum „Alibi“ an, in Gedanken immer noch bei einer seiner unvollendeten Storys zu sein, weshalb er noch nicht bei ihr „zurück“ war. Eine Notlüge, die aber sein musste. Auch wenn sie seit Jahren verheiratet waren, war sie immer noch aufbrausend und eifersüchtig, vor allem wenn es um die Menschen und Frauen aus seinem anderen Leben ging. Er versuchte sie deshalb niemals zu provozieren. Ihre Liebe und ihre Treue waren ihm jedes Opfer wert.
„Lass es für heute erstmal gut sein, ich habe einen Riesenhunger Hemingway“ sagte sie. Er warf sofort ein Stück Fleisch in die Bratpfanne und stellte eine große Salatschüssel auf den Tisch.

„Mein Schatz! Dafür liebe ich dich so sehr“ sagte sie und gab ihm einen Kuss.
Wenn sie zu Hause war, hörte er meistens mit dem Schreiben auf. Diese Zeit gehörte ihr. Dann aßen sie gemütlich auf dem Sofa und schauten eine Weile TV. Dort lief gerade eine neue Folge der Sopranos. Eine Stunde später ging sie schlafen. Er blieb noch lange Zeit wach und dachte über das Leben, den Tod, die Liebe und dieses Foto im Album nach. Dabei ging es ihm immer wieder um diese eine Frage. Eine Frage, die ihm seinen Schlaf und seine Ruhe raubte, nämlich, ob die erste Liebe die einzig wahre im Leben sei. Und er konnte erst zu Bett gehen und abschalten, als er die Antwort darauf gefunden hatte, nachdem sein Herz und Verstand einstimmig beschlossen hatten: „Die einzig wahre vielleicht doch nicht, aber die schönste auf jeden Fall!“
Ende

Roman Dell

12.12.2014-17.04.2017
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Beitrag von zuzu »

Und jetzt die neueste Geschichte!

In Januar 2012 verfasste ich eine Erzählung, die ich anschließend „Deutsche Sprache“ nannte. Es war eine Kurzgeschichte, (nur 3 Seiten) in der ich auf humorvolle Weise, meine Erlebnisse beim Erlernen der deutschen Sprache beschrieb. Sie war als ein kurzer Ausflug in ein anderes Genre geplant (mein Schwerpunkt lag damals überwiegend bei historischen, sowie Liebes- und Künstlergeschichten) und ich wusste nicht, dass daraus bald ein langer Zyklus von Integrationsgeschichten entstehen würde.
„Deutsche Sprache“ kam bei dem Publikum sehr gut an. Und zwar sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Einwanderern. Jeder fand da etwas für sich. Also beschloss ich mehrere Geschichten zu diesem Thema zu schreiben. Und so entstand dieser Blog auf den Gelsenkirchener Geschichten.
Inzwischen haben sich bei mir so viele neue und lustige Erlebnisse rund um die deutsche Sprache angesammelt, dass ich eine Fortsetzung für „Deutsche Sprache“ zu schreiben beschloss, die deutlich größer und länger als der erste Teil ausfiel. Das Ergebnis dieser Arbeit ist diese Juni- Geschichte heute. Danach legen wir eine kleine Sommerpause ein. Ab September geht es dann mit neuen Geschichten weiter. Und schreibt mir, was euch gefällt oder nicht gefällt.



[center]Vom „Schlimmer- Antrag“, Pils und Amtslyrik
oder
meine neuen Erlebnisse mit der Deutschen Sprache.


(Erzählung)
[/center]
Als jemand, der die deutsche Sprache als Zweitsprache gelernt hat, komme ich mir manchmal wie ein veralteter Computer vor, der sich immer wieder updaten muss, um auf dem neusten Stand zu sein. Und zwar sobald mein Gehirn auf ein unbekanntes Wort stößt. Wie sin|te|ma|len zum Beispiel. Eine unverzeihliche Bildungslücke, die ich dank meines Arbeitskollegen und Freund Ullrich doch noch schließen konnte. Dieser lieh mir ein wunderbares Buch, das aus der Feder des sowjetisch-estnischen Schriftstellers Jaan Kross stammte und den schlichten Titel Das Leben des Balthasar Rüssow trug. In dem Wälzer ging es um einen jungen estnischen Chronisten, der im deutsch- baltischen Ritterstaat Livland lebte und als Verfasser der berühmten Chronika der Provintz Lyfflandt in die Geschichte einging.

Der Roman enthielt viele, (mir bis dahin) unbekannte Wörter. Hauptsächlich aus dem Berufsfeld und dem Alltag der Späten Neuzeit. Überwiegend in Mittelhoch- oder Niederdeutsch des 16 Jahrhunderts. Ich musste jeden einzelnen Begriff im Internet suchen und recherchieren, einschließlich sin|te|ma|len. Ein irrer Spaß, aber auch ein mühsames Unterfangen.
Nachdem ich erfahren habe, dass sin|te|ma|len weil; zumal in Hochdeutsch bedeutet, war meine Freude darüber unbeschreiblich. Ich ging wochenlang allen meinen deutschen Kollegen, Freunden und Bekannten fürchterlich auf die Nerven, indem ich jedem von ihnen die Fangfrage zu sin|te|ma|len stellte…
…und fühlte mich jedes Mal beruhigt und erleichtert, weil sie ebenfalls ein Problem mit diesem Wort hatten. Keiner von ihnen hatte den Ausdruck sin|te|ma|len je gehört, geschweige denn benutzt. Ein schwacher Trost, aber kein Grund, sich auf den eigenen Lorbeeren auszuruhen, sondern weiter zu lernen, zu lernen und zu lernen, wie uns das berühmte Zitat von Lenin auf dem Schulplakat in der Sowjetunion lehrte.

Man kann von Lenin halten was man will, aber in dieser Sache hat Wladimir Iljitsch absolut Recht. Lernen ist wichtig. Aber hat man da überhaupt eine Wahl? Als Nicht-Muttersprachler, (so geht es mir zumindest) befinde ich mich automatisch in einem Dauerlernprozess, der nie und niemals aufhört. Selbst wenn ich mit den Arbeitskollegen auf dem Betriebsausflug in Recklinghausen bin und beim Boente entspannt ein Bier trinke, läuft das Erlernen der deutschen Sprache im Hintergrund still und unbemerkt weiter, wie ein Kaspersky Antivirus Programm, das nach Lücken und Schwachstellen im Betriebssystem sucht und diese unverzüglich beseitigt.

So habe ich übrigens das Wort Rad/ab/weiser gelernt, Entschuldigung, „updatet“. Und brauchte dafür nichts weiter zu tun, als dem Vortrag unseres Stadtführers zuzuhören und rechtzeitig nachzufragen, als dieser uns eine Stelle bei Boente zeigte, wo die Pferdekarren der Lieferanten ihre Säcke mit Malz damals abladen durften und dabei dieses seltsame Wort benutzte: Radabweiser. So kann man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.

Und Du, mein Leser! Weißt du auch, was ein Radabweiser bedeutet? Man nennt das Ding auch Prellstein. Bestimmt noch nie etwas davon gehört? Mir geht es ähnlich wie dir nur, dass ich mich danach sofort frage, ob es doch nicht an meinem Deutsch liegt. Ist es gut, mangelhaft oder einigermaßen?

Dabei sind meine „Klagen“ nichts als ein Jammern und Koketterie, denn ich habe schon vergessen, wie schwer die Fremdsprache gerade am Anfang ist… wenn dir neun von zehn Wörtern im Satz fehlen. Wie der Mann in der Geschichte, die ich neulich von einer Bekannten gehört habe.

Dabei fing das Ganze ziemlich unspektakulär an. Nämlich in einem Lebensmittelladen einer großen Discount-Kette. Dort wollte meine Bekannte, wie immer am Donnerstag, ihren wöchentlichen Einkauf erledigen, als dieser Mann plötzlich in ihr Blickfeld geriet. Der Fremde, (vermutlich aus einem der Balkanländer), benahm sich ziemlich eigenartig. Der Typ, klein und rund wie ein Kugelfisch, stand zögernd vor der Tiefkühltruhe und starrte den Inhalt des Gefrierschranks mit einem Blick voller Konzentration und Verzweiflung an, wie ein Magier dem ein Kunststück misslingt, von dem sein Leben abhängig wäre.

Auf diesen Zustand der absoluten Hilfs- und Ratlosigkeit folgte eine kurze Phase voller Action und hastiger Suche. Dann watschelte der Fremde wie eine lahme Ente durch die Gänge des Ladens und checkte alle Regale ab. Doch egal wie sehr und wie oft er sich bemühte, er fand nichts. Am Ende kehrte der Fettwanst enttäuscht zur Tiefkühltruhe zurück und blieb da ein paar Minuten stehen, ehe das komische Schauspiel wieder von vorn begann.

Das fand die achtsame Verkäuferin an der Kasse nach einer halben Stunde „Observation“ nicht mehr lustig. Kundenfreundlichkeit hin oder her. Sie hielt das Ganze für einen neuen „Gauner-Trick“ und sah schon die Schlagzeilen wie „Dreister Osteuropäer klaut Tiefkühltruhe-Waren in einem Discount“ in der Morgenausgabe der Bild stehen. Das wollte und durfte die Gute auf keinen Fall zulassen… und zog den Dicken vorsichtshalber „aus dem Verkehr“.
„Was wollen Sie, junger Mann? Kann ich Ihnen helfen?“ baute sich die Verkäuferin vor dem Fremden auf, als der gerade im Begriff war, seine seltsame „Action“ erneut zu wiederholen. Doch anstatt sich zu erschrecken, zeigte das Gesicht des Mannes große Freude und Erleichterung. „ Isch besorgen for meine Frau“ atmete der Dicke freundlich aus. “Du mir helfen wo ich finden, Kollega?“ und legte der Verkäuferin seinen Einkaufszettel in die Hand.
„Das ist kein Deutsch! Das kann ich nicht lesen!“ sagte die Kassiererin leicht gereizt und reichte entschlossen den Zettel an den Mann zurück.“ Sie müssen schon sagen, was Sie wollen. Wenn es geht, auf Deutsch, bitte!“
„Isch suchen…isch suchen…stotterte der Dicke.
Warum auch immer: er wurde plötzlich nervös und begann leicht zu stottern, was die Kassiererin wiederum sofort für die Bestätigung ihrer Theorie und ein klares Schuldeingeständnis hielt. Doch der Dicke suchte nur nach einem richtigen Wort. Einem Wort, das sein Problem und dieses merkwürdige Verhalten erklären würde. Einem Wort… das ihm leider nicht einfiel.

Aber die Ausländer stehen nicht umsonst im Ruf, wahre Überlebenskünstler zu sein. Das versuchte der Fremde jetzt auch und hatte seine wundersame „Rettung“ allein meiner Bekannten, beziehungsweise ihren Einkäufen, zu verdanken. Er sah hilfesuchend in ihre Richtung und plötzlich…plötzlich wusste er es wieder.
„Wo ist die Mutter von dem Ei?“ platzte er glücklich raus. „Isch such die Mutter von dem Ei? Du mir zeigen, Kollega? Isch nix finden im Kühlschrank!“ und zeigte auf die Eierpackung in dem Einkaufswagen meiner Bekannten….
Es gab nur eine Sekunde Stille. Eine lange Sekunde… bevor jeder im Laden zu lachen begann. Inklusiv der misstrauischen Verkäuferin. Nur unser Balkanmensch verstand die Welt nicht mehr. Warum machten sich alle jetzt plötzlich über ihn lustig?

So schnell kann ein Missverständnis entstehen, aber auch geklärt werden. Unser Fettwanst war kein Dieb. Er wollte nur ein Hähnchen aus der Gefriertruhe haben. Ihm fehlte nur das Wort dafür. Was ist da schon mein sin/te/malen dagegen? Ein purer Luxus. Nichts als Luxus.
[center]
XXX[/center]

Oh du große, vielfältige, deutsche Sprache! Ich liebe und bewundere dich! Doch manchmal kannst du ganz schön gemein sein. Sowohl zu den Deutschen als auch zu uns - Ausländern. Das hat ein deutscher Freund von mir persönlich erlebt. Dabei wollte der arme Mann auf der Nordseite des Kanals nur etwas trinken. Und sieh mal, was passierte!
In Gelsenkirchen-Buer angekommen, begab er sich sofort in seine Lieblingsgaststätte, wo mein Freund seit Jahren ein Stammkunde ist, mit der Absicht dort ein kühles Bier zu trinken und sich von dem harten Tag im Büro zu erholen. Er saß kaum an dem Tisch, da wurde er schon von der jungen Kellnerin begrüßt, (eine kleine und hübsche Asiatin) die wie aus dem Nichts kam und jetzt mit dem Notizblock vor ihm wartete. Allem Anschein nach eine „Neue“, denn er hatte sie bis heute im Laden noch nie gesehen.

„Tach! Vollen Si son Mal etwas besstellen?“ erkundigte sie sich höflich.
Vor so viel personifizierter Schönheit, Liebreiz und Anmut überrascht, bekam mein Freund vor Aufregung kaum die Zähne auseinander. „Ddddanke! Brrrringen Sie mir bitte einen Salat mit Pils!“- nuschelte er schüchtern und verlegen.
„Gern!“ antwortete die Kellnerin und verschwand in der Küche.
In der Zwischenzeit holte mein Freund eine frische Ausgabe des Spiegel raus aus dem Koffer und begann gelangweilt darin zu blättern. Er lass über die sinkenden Werte der Kanzlerin, den kommenden Wahlkampf, die Flüchtlingskrise, PEGIDA, AFD und die Rechte im Osten, checkte die DAX-Werte und den Bundesliga-Spielplan, nahm zur Kenntnis, dass der „böse Russe“ die Wahlen und die Demokratie in Deutschland bedroht ( schon wieder!!!) und Donald Trump dasselbe jenseits des großen Teichs tut, ( na das ist aber etwas Neues), beäugte die XXXL-Werbung des neuen Mercedes-Benz der A- Klasse mit einem hübschen Modell auf der Rückseite, warf einen Blick auf die Bestsellerliste und das TV-Programm und hatte die Zeitschrift so gut wie durch…. Nur sein Bier und der Salat kamen nicht. IMMER NOCH NICHT!
Als er irgendwann Mal die junge Asiatin mit dem Tablett voller Speisen stolz und selenruhig zum Nachbartisch stolzieren sah, war von seiner Verlegenheit und Verliebtheit nichts mehr übrig. „Warum dauert es so lange mit dem Salat? Und wo bleibt bitte schön mein Pils?“ beklagte er sich ungeduldig und bekam darauf eine ziemlich verwirrende und nicht weniger beunruhigende Antwort zu hören: „Nur die Ruhe, mein Herr! Ihr Salat mit Pils wird gerade zubereitet“
Meinem Deutschen fiel die Kinnlade herunter. Sein Salat? Mit Pils? Zubereitet? Eine halbe Stunde lang? Aber warum?
„Das mit dem Salat verstehe ich noch. Aber seit wann muss denn ein Pils zubereitet werden? Ist dem nicht so, dass es eigentlich gezapft wird?“ dachte er still darüber nach… und wollte die hübsche Asiatin dasselbe laut fragen, aber die Kleine war schon weg. Ihm blieb nichts Anderes übrig, als weiter in seiner Zeitschrift zu blättern. Doch dieses Mal kam die Kellnerin schnell zurück. Er schaffte es nicht einmal die Bilder der Promis in der VIP-Chronik anzusehen. Die kleine Asiatin war wieder da.
„Kein Grund ssauer zu sein“ hörte er ihre melodische Stimme an seinem Ohr singen, während sie seine verstimmte Miene vor sich sah. „Hier, wie besstellt, mein Herr! Ihr Ssalat mit Pilsen!“ verkündete sie jubelnd und stellte strahlend einen Teller auf den Tisch.
„Was ist das?“ Mein Freund deutete wütend mit dem Finger auf den Tisch hin. Dort stand eine riesige Salatschüssel… aber KEIN BIERGLAS.
„Was soll das, Fräulein! Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Was haben Sie mir mitgebracht? Ich wollte ein Salat UND ein Pils haben. Also etwas von dem Grünzeug da und ein Bier. Kein Salat mit dem Pilz… oder Pilzen, wo wir gerade bei der Mehrzahl sind - redete er auf die Kellnerin ein.
Mein deutscher Freund konnte sich vor Empörung kaum noch beherrschen. Eigentlich wollte er der Kleinen zum Schluss ein üppiges Trinkgeld anbieten, aber davon war jetzt keine Rede mehr. Sie kann die Kohle wirklich vergessen. Nicht bei dem Service! Er zitterte innerlich vor Wut. Aber seine Worte trafen ins Leere.
„Nein! Ssie wollen mich auf den Arm nehmen! „wehrte sich die Kellnerin, die trotz ihrer piepsigen Stimme und Körpergröße sehr selbstbewusst und schlagfertig auftrat und sich überhaupt keiner Schuld bewusst war. „Ich alles ristig versstanden. Ssie haben ein Salat mit Pilz gessagt. Das haben Sie! Ich selbst gehört! Da haben Sie es! Ein Salat mit Pilz! Der Koch hat die Pilze, ich kenne die Pluralform, extra für Sie gebraten und in die Schüssel geschmissen“.
„Junge Dame!“ Der Ton des Deutschen wurde ruhiger. Man konnte jetzt sogar leichte Ironie und Heiterkeit in seiner Stimme erkennen.“ Jetzt nochmal zum Mitschreiben. Ein Pils ist ein Bier. Ein Alkoholgetränk. Und die Pilze sind das, was ich in meinem Teller liegen habe. Sie haben mich wohl doch nicht richtig verstanden! Aber nun verstehe ich wenigstens, woran es lag“
Jetzt sprach er wie ein Oberstudienrat- nachsichtig und belehrend. Seine Worte und sein Stimmungswechsel schienen sie zu irritieren.
„Aber Sie ssagten doch selbst Ein Salat mit Pilz!“ gab die Kellnerin nicht nach. Pilz! Ich habe Pilz gehört. Ristig gehört!
„Nein! Zum Teufel, nein! Ich sagte ein Pils, kein Pilz, doch sie haben Pilz statt Pils verstanden. So war es doch! Pils und Pilz sind aber nicht dasselbe. Das klingt vielleicht nur sehr ähnlich“ machte er der Kellnerin den Unterschied erneut klar.
„Nist dasselbe?“ fragte die Asiatin unsicher und misstrauisch.
„Ganz genau! Nicht dasselbe!“ bestätigte der Deutsche. Sein Zorn hatte sich gelegt. Er konnte die Kellnerin inzwischen wieder gut leiden. Und mit dem Trinkgeld, das würde er sich auch noch überlegen. Schließlich kann die Kleine doch nichts dafür, dass die deutsche Sprache so schwierig und doppeldeutig ist. Selbst für Deutsche! Er brauchte da nur an die Schuldiktate seiner Kindheit zu denken.
„Ich wiederhole, Fräulein, Pils- Getränk. Pilz-Essen“ wandte er sich erneut an die Kellnerin. „Das eine schreibt man mit S, das andere mit Z. S nicht Z. Das ist wichtig! Verstanden? Ah wissen Sie was! Vergessen Sie das einfach! Deutsche Sprache ist schwere Sprache und ich nuschele noch wie ein Hurkator… Nichts desto trotz hätte ich gerne mein Bier! Ein Pils. Aber flott bitte!“
Dann lachten die Beiden. Und was das Pils angeht, so bekam er sein Bier natürlich auch. Kühl und schaumig, wie es sich gehört. Also ist das nicht eine herrliche Geschichte?

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So ist das mit den Fremdsprachen. Man wird nie perfekt sein und muss immer mit Fehlern rechnen, wenn das „Original“-Betriebssystem die „fremde“ Software plötzlich nicht mehr verträgt. Das lässt sich einfach nicht vermeiden. Dabei können die „Sprachpannen“ Sie überall erwischen: Beim Arzt, während des Shoppings, auf der Straße und im Café. Oder (noch viel schlimmer und gemeiner) …bei einem Gang zur Behörde.
Hier kommt mir sofort diese türkische Oma in den Sinn, die einen… Schlimmer-Antrag von mir haben wollte. Ich scherze nicht. Das hat sie wirklich so gesagt. Sie erschien kurz vor dem Feierabend an unserer Rezeption und reichte mir wortlos ein geknicktes Blatt Papier durch das Sprechfenster ein. Sie trug eine lange Abaya- das traditionelle islamische Kleid und ein weißes Kopftuch und war völlig außer Atem. Was mich keineswegs wunderte. Unsere Behörde machte in nur wenigen Minuten zu.

„Bestimmt hatte ihr Mann unter Tage gearbeitet, als die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen und war jetzt an Silikose - der Berufskrankheit aller Bergleute -, erkrankt“, dachte ich und nahm ihren Zettel in die Hand. Darauf stand in großer Kinderschrift
„Schlimmer-Antrag-2 Stück“
gekritzelt.
Obwohl dieses Wort für Nichteingeweihte genauso rätselhaft wie die Botschaft des Orakels von Delphi klang, wusste ich trotzdem sofort was gemeint war. Sie wollte einen Vordruck von mir haben. Täglich kamen hunderte Menschen in unsere Behörde, sowohl Deutsche als auch Ausländer, und wollten alle diesen Vordruck haben: Erst und - Änderungsantrag für Schwerbehinderung. So die amtliche Bezeichnung oder auch Verschlimmerungsantrag in Kurzform.
Dabei musste jeder Besucher dem Formular immer einen neuen Namen geben, den nur der Bittsteller selbst verstand. Was habe ich da nur in diesen sieben Jahren nicht gehört: Ein Papier für Prozente, das Ding, der Zettel zum Kaputtschreiben, Invaliden-Fragebogen, aber ein Schlimmer Antrag …. Das gab es noch nie.
Ich bin der letzte, der die Fehler der anderen kritisiert. Schon gar nicht, was Deutsch angeht, ich bin schließlich selbst nicht perfekt und kein Muttersprachler, aber ihr Fehler war so offensichtlich und so gravierend, dass es unmöglich war, ihn nicht zu korrigieren. Ich wollte nicht, dass man über sie lachte, aber ich wollte auch nicht die Oma brüskieren und versuchte es zunächst möglichst taktvoll und diplomatisch.
„Einen Schlimmer-Antrag haben wir nicht. Aber einen Verschlimmerungsantrag, den kann ich Ihnen gerne geben“ sagte ich freundlich, aber sie schien meine „edlen Absichten“ und meine „Blumensprache“ nicht im Geringsten zu verstehen.
„Nein! Mein Mann sagt, Schlimmer-Antrag bringen. Nix anderes Papier“ wiedersprach sie mir heftig und trat erschrocken vom Sprechfenster zurück.
„Einen Schlimmer- Antrag gibt es bei uns trotzdem nicht. Dafür aber einen Verschlimmerungsantrag“, startete ich geduldig einen zweiten Versuch, doch ich hatte einfach kein Glück. Die Oma schüttelte nur ablehnend den Kopf.
„Mein Mann sagt Schlimmer-Antrag. Ich Schlimmer- Antrag bringen! 2 Stück“ wiederholte sie stur gebetsmühlenartig.
Es war sinnlos, diese alte Frau weiter auf ihren Fehler anzusprechen. Sie hörte mir überhaupt nicht zu. Ich gab mich geschlagen und legte kommentarlos den Antrag auf die Kundentheke. Zwei Exemplare. Wie gewünscht. Sie begann die Formulare sorgfältig zusammen zu falten um die Unterlagen gleich in ihre Handtasche zu packen. Als ihr Blick dabei auf die Worte Schwerbehinderung, Erstantrag und Änderungsantrag stieß, zeigte das Gesicht der Oma auf einmal eine Mischung aus Heiterkeit und Verlegenheit. Jetzt wusste sie was ich vorhin gemeint hatte.
«Entschuldigung, junger Mann! Ich blöd. Meine Brille zu Hause vergessen. Eine alte Frau. Ich nicht sofort alles gesehen! Deutsche Sprache ist schwer. Du mich verstehen? »- sagte sie zu ihrer Verteidigung und breitete hilflos die Hände über dem Kopf. Ich vernahm in ihrem Ton, dass sie bei mir nach einer gewissen Solidarität und Verständnis suchte, die man von einem Einwanderer an dieser Stelle sogar erwartete, weil man mit seinem Gegenüber dasselbe Schicksal und dieselben Erfahrungen teilte.

Wer jetzt auf dem hohen Ross sitzt und denkt, nur die Ausländer hätten Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, liegt dabei völlig falsch. Denn ich habe euch ein Geheimnis zu verraten. Wenn Deutsch für Ausländer eine Fremdsprache ist, so ist Amtsdeutsch die Fremdsprache der Deutschen. Und lacht nicht! Das ist wirklich war. Das Lachen wird einem schnell vergehen, spätestens wenn er selbst einen Brief oder einen Bescheid von der Behörde bekommt.
Was würde jemand von euch zum Beispiel sagen, wenn das Ordnungsamt euch auffordern würde „sich unverzüglich um die Spontanvegetation hinter Ihrer nichtlebenden Einfriedung zu kümmern, sowie vom regelmäßigen Abstellen des Dreiseitenkippers und anderer Arbeitsutensilien vor der Feuerwehreinfahrt abzusehen?“…
In „Menschensprache und auf Deutsch“ aus dem Amtsdeutsch übersetzt will die Behörde Ihnen auf diesem Wege mitteilen, dass Sie das Unkraut hinter Ihrem Zaun dringend entfernen sollten und Ihre Schubkarre und Ihr Arbeitszeug auf keinen Fall in der Feuerwehreinfahrt abstellen dürfen, weil es den Löschfahrzeugwagen im Ernstfall behindern würde. Da würde durch das Räumen kostbare Zeit für die Lebensrettung verloren gehen.
Die Besitzer von Eigenimmobilien dürften sich ebenfalls ratlos fühlen, wenn sie einen Brief von der Behörde erhalten, in dem eine Grundstücksentwässerungsanlage erwähnt wird. Ich gebe euch den Rat, diese nicht im Haus zu suchen…. Die Regenrinne findet man für gewöhnlich immer draußen auf dem Dach.

Überhaupt ist das Amtsdeutsch an Gemeinheiten nicht zu überbieten. Für jedes stinknormale Wort muss es im Amtsdeutsch mindestens zwei, wenn nicht mehr Fachbegriffe und Bezeichnungen geben, mit dem einzigen Zweck, die Menschen zu ärgern und zu verwirren. So die Meinung des Bürgers draußen. Beispiele davon hat er auch noch genug. Wenn der Otto Normalverbraucher einen Hubschraubertransport sagt, spricht der Verwaltungsmensch immer von einer Luftverlastung. Eine Ampel heißt in seiner Sprache „Bedarfgesteuerte Fußgängerfurt“, Vormundschaft „Bestallung“, ein Baum „raumübergreifendes Großgrün“, Diskothek „Lautraum“ und so weiter, und so weiter. Diese Sprache in der Sprache ist noch schlimmer als Bayerisch. Wobei Bayerisch schon Strafe genug wäre. Und eine Wortzusammensetzung wie diese bringt selbst die Einheimischen 100% auf die Palme. Wetten dass…
RINDFLEISCHETIKETTIERUNGSÜBERWACHUNGSAUFGABENÜBERTRA GUNGSGESETZ.
Meine ich doch!
Als Verwaltungsmensch der auch seit ein paar Jahren dazu gehört, muss ich meine Kollegen an dieser Stelle in Schutz nehmen und euch getrost sagen: Wir machen es nicht absichtlich! Wir wussten es früher auch nicht. Wir haben Amtsdeutsch einst mühsam und fleißig gelernt. Und wir haben volles Verständnis für euch!

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An dem Verwaltungsdeutsch arbeite ich persönlich sogar immer noch. Dabei hatte mein Ausbilder schon damals die Problematik erkannt, als er mir die Aufgabe übertrug, eine Bewerberin hinsichtlich ihres fehlenden Lichtbildes anzuschreiben.

Ich wollte meinem Chef unbedingt beweisen, was man als Einwanderer nach nur fünf Jahren in Deutschland sprachlich draufhat und zog alle Register. Nach einer halben Stunde, legte ich ihm meinen Briefentwurf auf den Tisch. Dabei glaubte ich, den besten Brief meines Lebens geschrieben zu haben, der ganz im Stile von Die Leiden des jungen Werthers verfasst war. Dort begrüßte ich das Fräulein Y ganz herzlich. Dann beglückwünschte ich die Dame zu Ihrem Erfolg, es in die engere Auswahl der Bewerber geschafft zu haben. Als nächstes bat ich die Bewerberin so nett und gütig zu sein und uns schnellstmöglich ein Lichtbild von sich zukommen zu lassen, weil dieses zur Vervollständigung ihrer Bewerbungsunterlagen hier dringend benötigt wird. Anschließend dankte ich der gnädigen Frau für Ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit und verabschiedete mich von ihr mit einem Hochachtungsvoll, Ihr ergebener Diener…. Und fand das eigene Ergebnis unschlagbar und hervorragend.
Mein Ausbilder sah das ganz anders. „Was haben Sie da nur für einen Roman geschrieben? Wollen Sie die Frau etwa privat treffen? Sie müssen lernen, sich knapp und sachlich auszudrücken. Präzise und klar denken und genauso schreiben. In einem Behördenbrief haben die Ausschmückungen wie Ihre nichts zu suchen. Aber denken Sie bloß nicht, eine solche Sprache wäre gradlinig und wortarm. Nicht mit einem Literaturstil zu vergleichen. Auch wir haben unsere Amtslyrik. Sie werden lernen solche Texte zu schreiben. Das ist auch eine Kunst. Das werden Sie schon bald merken.

Wie Recht er nur hatte. Die Amtslyrik ist wirklich eine Kunst. Und es ist alles andere als leicht, diese Kunst zu beherrschen. Da hilft einem die Schriftstellerei auch nicht mehr weiter. Trotzdem wäre es falsch zu denken, Verwaltungsmenschen seien mit der Zeit so in ihre Amtssprache verliebt, dass sie nicht mehr im Stande sind, diese gelegentlich kritisch zu sehen. Denn über die eine oder andere Formulierung im Gesetz schüttelt auch ein Verwaltungsmensch manchmal den Kopf. Wie bei einem Gespräch neulich.

Wir unterhielten uns über den Wortlaut des Gesetzes. Es ging um die Regelung von Lohnfortzahlung und die Definitionen der Dienstunfähigkeit, als ein Kollege der gerade dazu kam, plötzlich sagte: „Manchmal frage ich mich wirklich, was die Politiker sich dabei denken, wenn sie Sätze wie diese schreiben. Hört nur, was die zur Dienstunfähigkeit sagen! „Der Tod stellt aus versorgungsrechtlicher Sicht die stärkste Form der Dienstunfähigkeit dar. Habe ich einmal im Landesbeamtengesetz gelesen. Das ist krass! Darauf muss man erstmal kommen!!!“
Und ich musste bei diesen Worten leise lächeln. Das beweist nur, dass Beamte und Angestellte auch nur Menschen sind, die die Amtslyrik auch nicht immer gut heißen. Ja, genau! Ihr habt es richtig gehört! Der Tod stellt die stärkste Form der Dienstunfähigkeit dar, das findet selbst ein Verwaltungsmensch nicht mehr normal oder lustig.

Ende
Roman Dell
26.12.2016- 21.05.2017
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