Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

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TheoLessnich
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Väter können sich ihre Söhne nicht aussuchzen, Söhne nicht i

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Karl mochte gar nicht mehr hinsehen. Doch schweifte sein Blick immer wieder hinüber zum Nachbarbett. Darin lag einer in bequemer Seitenlage. Ein zäher Speichelfaden aus seinem Mundwinkel vergrößerte stetig den Schleimflecken auf dem Kopfkissen. Karl war angewidert, aber auch neidisch auf seinen Bettnachbar. Wie gerne hätte er sich mal so unverschämt bequem ausgestreckt. Der Preis dafür in der Währung Schmerz war zu hoch. Seit drei Tagen lag er hier mit seinen gebrochenen Rippen in dieser Volltoraxbandage steif in Halbachtstellung auf dem Rücken.

Zwischen Abend und Nacht waren sie gekommen. Eigentlich hatte Karl nie Händel gesucht, war aber auch nicht jeder Schlägerei aus dem Weg gegangen. Diese Schlägerei hätte er gern vermieden. Mindestens zwei Gegner zu viel waren sie und jeder Einzelne so fit wie er vor dreißig Jahren.

Was hätte er nicht dafür gegeben, sich jetzt eine dieser pottschwarzen Zigarillos anstecken zu können? Dafür hätte er sich trotz aller Schmerzen sogar bewegt. Doch seine geliebten Giftstängel lagen zu Hause, hätte er sie hier, wäre es wieder zu massiven Protesten der Passivraucher gekommen. So wanderten seine Augen unstet zwischen dem Rotzfleck und der Tür hin und her.

Noch nie hatte er sich so gelangweilt. Trotz aller Langeweile verzichtete er gern auf die Abwechslung des nochmaligen Besuchs der Kripo. Die Kerle sind immer noch so penetrant wie eh und je. Sie glotzen dich an wie die Katze die Maus, klären dich aber zum Verrecken nicht auf, warum sie nicht aufhören zu fragen, obwohl sie vorgeben, doch schon alles zu wissen. Wer lädt sich wohl selbst solche Schläger ein und fängt auf seinen alten Tagen noch an, mit Dope zu dealen? Nur Kripoleute kommen auf solche Ideen. Wer sollte in der alten Zechensiedlung das Zeug kaufen? Da gibt es doch nur noch Alte, Wohnungsleerstände und verwilderte Tauben.

Ob sie dem Alten aus dem Nebenhaus, dem mit dem verknautschten Lederhütchen, der sich jeden Morgen gegen neun seine Zeitung und seine Tagesration Flaschenbier gegenüber am Kiosk holte, ob sie dem auch gesagt haben, niemanden könnten sie in diesem Sanierungsgebiet Personenschutz garantieren? Jetzt sitzt er im Rollstuhl. Er schwört Stein auf Bein, er sei an jenem Abend stocknüchtern gewesen, er sei die steile Treppe hinuntergeschubst worden.

Klar, wenn die letzten Bewohner das Feld geräumt haben, kann diese alte Backsteinsiedlung aus dem vorvorigen Jahrhundert platt gemacht werden, kann an ihrer Stelle noch ein Fun-, Shopping-, Wellness- oder was für ein Center auch immer errichtet werden.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Väter können sich ihre Söhne nicht aussuchen ...

Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung

Viel anders waren die Fragen der Kripoleute damals auch nicht, ganz und gar nicht anders ihre Unverschämtheit. Die taten gerade so, als hätte ich meinen missratenen Sohn ermuntert, die Tussi zu vergewaltigen. Väter können sich ihre Söhne nicht aussuchen, so wenig wie Söhne ihre Väter. Zugegeben hat der Filius die Tat nie.

Schon vorher hatten sie sich richtig gefetzt, als er die Schule geschmissen hat. Wäre er nur gleich mit seiner Mutter abgehauen. Weihnachten oder Sylvester ruft er mal an, erzählt jedes mal, wie stolz er auf seinen Sohn ist. Das legt sich, hat sich bei mir auch gelegt.

Schnee von gestern. Versuch lieber zu schlafen, dann vergeht die Zeit am schnellsten.

Irgendetwas hat Karl geweckt. Arztvisite? Nur nicht hastig bewegen, das tut verdammt weh. So schiefmäulig grinst kein Arzt. Der sagt auch nicht: "Na, was machst du noch für Sachen?" Sicher legt er mir auch nicht meine heiß geliebten Zigarillos auf die Bettdecke.

"Ist schon Weihnachten, oder hast du dich verlaufen?"

"Hier ist noch eine Schachtel. So brauchst du dich mit dem Gesundwerden nicht so zu beeilen."

"Damit lass ich mir jetzt wirklich Zeit." Karl konnte nicht sehen, dass er jetzt genauso schief grinste. "Wird sowieso nicht mehr allzu viel in meiner Wohnung übriggeblieben sein. Die haben die Tür eingetreten."

"Die Tür hält wieder. Hier sind die Schlüssel von dem neuen Schloss. Neue Möbel haben wir dir nicht gekauft. An den alten habe ich etwas herumgebastelt. So viel ist bei der Keilerei gar nicht kaputtgegangen. Jetzt ist Hanne, meine bessere Hälfte, noch in der Wohnung. Du weißt ja, Frauen müssen immer was zum Putzen haben."

Karl steckte sich einen seiner heiß geliebten Giftstängel in den Mund. Der schmeckte salzig.

TheoLessnich
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Gestatten, Prekarius

Beitrag von TheoLessnich »

Stille. Horst drückt noch einmal die Klospülung. Kein Rauschen. Er dreht alle Wasserhähne auf, statt Wasser nur ein kehliges Röcheln und paar armselige Tropfen. Rohrbruch irgendwo, Wasserausfall bis Mittag, so die telefonische Auskunft. Aber es gibt kurzfristig eine Notversorgung aus dem Tankwagen.

Positiv denken! Seine zweite, erste Natur. Wie oft hat er das seinen Adepten gepredigt. Hätte ich jetzt noch meinen Job, nicht auszudenken, ohne Duschen und Zähneputzen zur Arbeit. Eben bei Jutta duschen? Die lässt dich erst gar nicht herein. Wer weiß, wer da jetzt duscht? Habe ich sie eigentlich so ganz freiwillig verlassen? Ohne Illusionen könnte auch ich nicht leben. Aber Patrizia war es wert.

Auch sie auf und davon. Ohne Job nichts los. Welche Frau vertut schon ihre beste Zeit mit einem Geschassten? Das verdirbt das beste Image, erst recht bei so großem Altersunterschied. In jenen lebhaften Nächten war ihr der Altersunterschied offenbar egal, als das aus der Wanne geplanschte Duft- und Schaumbad die Nasszelle in eine nasse Zelle verwandelte, um dann gurgelnd in den Gully abzufließen. Das Zimmermädchen wird unschön geflucht haben. Wieso denke ich jetzt und überhaupt an das unbekannte Zimmermädchen?

Warum definieren wir Männer in den sogenannten besten Jahren uns nur so artig über den - in Wahrheit doch vom anderen Geschlecht gesetzten - Standard der Berufstätigkeit? Nimmt man uns das, bleibt uns nur die Verklärung und der Fußball. Da heraus kommt man nur mit einem ansehnlichen Vermögen.

Paradox: Du bist verheiratet, hast einen Job und jede Menge Chancen bei Frauen, nur keine Zeit und ständig die eigene Frau im Nacken. Jetzt: Zeit, Freiheit, Potenz im Überfluss - und wohin damit, bist Mauerblümchen. Die Vorsehung oder wer immer dieses Rad dreht, kann nicht weise sein, eher ganz fies gehässig.

Sohn Gerd studiert in Münster, kam immer seltener nach Hause. Claudia macht Karriere in einer Werbeagentur, sagt sie. Bei den immer seltener gewordenen Familientreffen redeten alle unentwegt, aber niemand hörte zu. Oft kam ich mir vor wie ein Zaungast. Hätte schon viel früher abhauen sollen. Lernte aber Patrizia erst später kennen. Jetzt zu Hause würden alle auf mich einreden, was ich alles gegen den Wasserausfall unternehmen sollte, müsste neben meinem eigenen Körpergeruch auch noch ihren ertragen.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Gestatten, Prekarius

Beitrag von TheoLessnich »

Dieser schlaue Kuttenträger damals auf dem Kongress. Er fiel mir weniger durch das auf, was er sagte, als durch seine prallen Eiterpickel am Kinn und an den Nasenflügeln. Bei der Akne hat er den Zölibat wohl zu ernst genommen und lebte vermutlich auch sonst asketisch ohne Spiegel. Gottes Wille offenbare sich nicht im individual Menschlichen, dozierte er, kumuliere vielmehr im kollektiv menschlichen Verhalten und Handeln. Dürfte wohl eher Gottes Todsünde sein, den Menschen die Illusion von so viel Narrenfreiheit gegeben zu haben. Klar, vom sicheren Port lässt´s sich gemächlich raten, natürlich ist es leichter, die Irrtümer Anderer zu erkennen, als die eigenen zu verschleiern.

Ein guter Verkäufer verkauft auch Sch..., sagt man. Nur Moral zu verkaufen, das hat nicht einmal der Nazarener nachhaltig geschafft. Trotzdem, wenn er Gottes Sohn war, Hut ab vor seinen Leistungen, trotz des väterlichen Vorbilds. Wie ist der Alte mit seinem unverbrüchlich treuen Fan Hiob umgesprungen und sein Psychoterror gegenüber Abraham, und dann soll er sich auch noch ausgerechnet mit denen versöhnt haben, die seinen eigenen Sohn - allerdings auf seinen Wunsch hin - zu Tode gefoltert haben.

Horst tritt vom Fenster zurück. Der Andrang zu dem Tankwagen hat nachgelassen. Lohnt es sich, noch auf die Schnelle einen Eimer Wasser zu holen? Zum Zähneputzen zu viel, zum Duschen zu wenig. Gleich heißt es eh wieder: Wasser marsch! Die Türklingel schlägt an, dann auch noch das Telefon. Mit dem Körpermief an die Tür? Lieber telefonieren: "Hallo!"

"Hallo Papa, hier Claudia."

"Claudia! Lange nichts voneinander gehört."

"Habe auch jetzt leider nicht viel Zeit. Wir haben ein Problem. Weißt du, so ein alter Frühstücksdirektor blockiert hier alles, aber niemand will dem noch eine dicke Abfindung hinterher schmeißen. Ohne geht er aber nicht. Hast du eine Idee, wie man so einen Arbeitsverhinderer loswerden kann?"

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Gestatten, Prekarius

Beitrag von TheoLessnich »

"Macht doch mit ihm, was sie mit mir gemacht haben. Das funktioniert auch im Top-Management. Erweitert seinen Arbeitsbereich so, dass er ihn nicht schaffen kann, mahnt in dann ab, nehmt ihm zur Entlastung Stück für Stück den dispositiven Bereich, etwas später könnt ihr ihn dann aus der marginal gewordenen Mitarbeit ohne große Abfindung herauskündigen."

"Papa, du bist ein Schatz. Entschuldige, aber ich muss wieder, komme aber bald mal vorbei. Tschüss!"

Wenn ihr ihn los seid, dann schickt ihn zu mir. Ich bring ihm bei, wie man als Geschasster positiv denkt, wollte Horst noch sagen, doch da war die Verbindung schon unterbrochen. Ich werde ein Buch schreiben: Prekariation im Schneeballsystem. Beim Prekarisieren sind alle Schneeballsystem erlaubt - ganz legal. Mein Pseudonym: "Prekarius." Vielleicht fällt mir noch ein reißerischer Titel ein.

Reißerisches ist immer verkaufsfördernd. Sonst verändert es nichts. Wäre sonst auch gar nicht erlaubt. Also werde ich wieder die nahezu unbegrenzte Rede- und Schreibfreiheit ausgiebig nutzen. Diese reibungsarme Methode des Herrschens mit der vollen Rede- und Schreibfreiheit ist eine echte Errungenschaft der Moderne, ist sie doch allen traditionellen Formen des Totalitarismus weit überlegen, und sie funktioniert. Ohne Folter, Kerker, Galgen stellt sie wie ganz von selbst die gute, alte, gottgewollte Ordnung wieder her.

Die Doktrin: So lange wir hier oben machen können, was wir wollen, könnt ihr da unten sagen was ihr wollt. Ein fairer Deal.

TheoLessnich
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Klassentreffen

Beitrag von TheoLessnich »

Wilfried wollte immer Klassensprecher werden, wurde es aber nicht. Vielleicht war das der Grund, dass er, wo immer er konnte, seine Mitschüler bei den Lehrern verpetzte. Wann merkt der endlich, dass ich alter Kerl an Klassentreffen nicht interessiert bin?

Den Stress, damals nach der Klassenfahrt, konnte ich wahrscheinlich ihm verdanken. Wäre aber auch möglich gewesen, dass der Klassenlehrer im Rückspiegel das - nach seiner Meinung höchst unschickliche - Herumgealbere im Bus beobachtet hatte. Allerdings hätte er dann aber auch sehen müssen, dass ich daran gar nicht beteiligt war.

Verstehen kann ich wohl, dass er von mir nicht die beste Meinung hatte. Doch erwischt hat er mich nur dieses eine Mal nach dieser Klassenfahrt.

Am Morgen danach war nämlich das große Filzen angesagt. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, habe ich aber nicht. Sonst hätte ich doch die Hochglanzbilder dieser leicht geschürzten Pin-up-Girls aus meiner Schultasche verschwinden lassen. So fand er jetzt endlich mal ein corpus delicti.


Das einzig Beeindruckende an dieser grauen Jammergestalt von einem Lehrer waren sein Stentor-Bass und sein Mundgeruch. Mit der Stimme konnte er Fensterscheiben zum Klirren bringen , mit dem Mundgeruch Rhinozerosse überwältigen.

Im Anschluss an seinem Fund in meiner Schultasche setzte er im Rektorzimmer eine inquisitorische Untersuchung in Szene, die offenbar nur den Zweck verfolgte, mich als den perfiden Verführer der unschuldigen Mitschüler, als den "Pestbazillus" anzuprangern, den es zu isolieren gelte, damit er die anderen mit seinem Pesthauch nicht anstecken kann.

Er rückte mir ganz dicht auf die Pelle, dämpfte seinen Stentor zu einem vertraulichen Grunzen: "Jetzt wollen wir mal in schonungsloser Offenheit von Mann zu Mann über alles reden", drohte er. "Dafür", damit meinte er Sex, "bist du noch zu jung." Dann ein erneuter Terrorangriff auf meine Trommelfelle: "Was bist du dafür!?"


Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Klassentreffen

Beitrag von TheoLessnich »

Angewidert von seinem Gestank, wütend über das Gebrüll muss ich wohl auch lauter geworden sein. Was habe ich damals noch gesagt? Gefragt habe ich: "Wann bin ich denn dafür alt genug? Wenn ich mit dem Kopf wackele und mir der Kalk aus der Hose rieselt? Soll ich mich um mein Leben betrügen lassen, um später auch Moral zu predigen, weil ich den dann Jungen nicht gönne, was ich mir selbst an der Nase habe vorbeigehen lassen, nur weil ich auf die Moralprediger hereingefallen bin?" Weiß heute schon nicht mehr, was ich davon gesagt oder nur gedacht habe.

An die Antwort erinnere ich mich noch sehr gut. "Das glaubst du wirklich?" steigerte er nochmal seinen Stentor. "Dann bist du ein Schwein und weiter nichts. Blutige Tränen wirst du noch weinen, wenn du feststellen wirst, dass du keine gesunden Kinder zeugen kannst, weil du dich schon vorzeitig verausgabt hast. Sag, dass du das nicht willst! Sag es!"

"Vor allem will ich nicht so leben wie mein Alter." Jetzt war mir schon alles egal, und ich redete einfach weiter: "Familie, einen Stall voll Bälger, damit das Geld nie hinten und vorne reicht? Das ich nicht lache! Was für ein Leben mein Vater hat? Maloche, schlafen, fressen. Jahrelang den selben Sonntagszwirn und nur für den Kirchgang, immer die selbe nörgelnde Frau, Weihnachten mal ´nen Schnaps und eine Zigarre, Ostern ein buntes Ei. Warum der so lebt, obwohl er sein Handwerk versteht? Doch nur, weil der alte Esel auf diese gottverdammten Moralprediger, Lehrer, Pastoren gehört hat. Das wird mir nicht passieren!"

Damit habe ich damals mein Bleiben auf der Schule aufs Spiel gesetzt. Im Nachhinein besehen war das nicht so wichtig. Was mich heute vielmehr bewegt ist, wie viel besser habe ich wirklich gelebt?

Bernhard Roth
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Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

Beitrag von Bernhard Roth »

Der Mensch lebt nicht vom Bier allein

Die Gegend glich einem Freilichtmuseum. Lange interessierte sich kein Immobilienhai für diesen grauen Steinkasten aus der Gründerzeit, nicht einmal die Aufsichtsbehörden. Der kränkliche Zeitungskiosk im Erdgeschoss war garantiert innerhalb der nächsten drei, vier Bushaltestellen ohne Konkurrent, trotzdem fast ohne Kunden. Die Kunden der Kneipe, sämtlich gestandene Kampftrinker aus der nächsten Nachbarschaft. Die Pächter kamen und gingen wie der Regen und Smog. Niemand gab sich die Mühe, sich ihre Namen zu merken.

Der sog. Bierakademiker hatte in dem Haus eine feuchte Mansardenwohnung, wiewohl er eigentlich mehr Inventar unten in der Kneipe war. Nach Art der Coolen trug er das Käppi mit dem Schirm im Nacken, ein Büchel seines Rotschopfs stand immer vorne aus dem Mützenschlitz. Dennoch blieb er so unauffällig, dass man ihn erst bemerkte, wenn er mal nicht da war. In seiner gebückten Haltung, dem immer nach innen gerichteten Blick seiner wasserhellen Augen war er die Inkarnation der Traurigkeit.

"He, wo ist der Bierakademiker?" Gebärdensprache ist angesagt. Was die Musikbox nicht an Phonetik wie in einem schwarzen Loch verschluckt, geht im Gestampfe der Knobelbecher und dem Gegröle der Marathonsäufer unter. Warum nur tut sich dieser Wirt dieses Technogewummer an, kann er den Säufernachwuchs nicht anders rekrutieren?

"He, der Bierakademiker, wo steckt der?" Seinen bürgerlichen Namen kannte wohl außer ihm selbst nur sein Vermieter und sein3e Schwester im Sauerland. Sein Spitzname wurde sein Titel, seine Idedentität, wiewohl ihn sein Bierverlag schon vor einer halben Ewigkeit gefeuert hat. Intuitiv muss er empfunden haben, dass man nur wirklich sein kann, was man tut, und wer will schon nichts sein? Das mag der Grund gewesen sein, warum er hier in dieser Kneipe unverdrossen weiter die Bierleitungen spülte, die Zapfhähne fettete, die Pressluftanschlüsse kontrollierte, wenngleich mit längeren Trinkpausen.

Je später der Abend umso öfter überkam ihn der Wunsch, sich mit seiner Schwester - vermutlich über die gemeinsame Kindheit und Jugend - zu unterhalten. Die Kumpel packten ihn dann gegen einen Obolus für Benzin und mit der Zusage, ihn zu seiner Schwester zu bringen, ins Auto, fuhren ihn so lange um den Häuserblock bis er selig eingeschlummert war und brachten ihn dann zu Bett.

In der Vorweihnachtszeit spielte der Wirt schon mal eine andere Platte in der Art: "Stille Nacht". Auch seine Gäste liebten es dann stimmungsvoll. Mehr noch, auf dem Stammtisch stand wie ein einsamer Leuchtturm so ein illuminiertes Mehrwegbäumchen, an der Bar weinten Kerzen wächserne Tränen. Verklärt röhrten die Gäste die süß klingenden Glocken, andere räusperten und schnieften öfter als sonst. Der Bierakademikerstudierte blinzelnd die ihm eigentlich hinreichend bekannte, schmuddelige Tapete. Doch noch vor dem Höhepunkt dieser Spirituosensitzung war sein Stamm-Barhocker am Ende des Tresens verwaist.

"He, he, wo war denn der Bierakademiker?" Die Juke-Box legt gerade erschöpft eine Pause ein. Der Wirt kommt näher. "Du warst bei der Adventfeier doch auch hier?" fragte er leicht erstaunt. "Hast du denn gar nichts gehört?" "Was soll ich gehört haben?"

"Also, der Bierhahn fing auf einmal an zu spucken. Aber der Bierakademiker war nicht da! Da haben wir ihn gesucht. Im Klo war er nicht. Seine Bude oben stand sperrangelweit offen, das Fernsehen lief. Was meinst du wohl, wo er war?" - "Na sag schon!" - "Nebenan auf dem Dachspeicher."

"Was hat er denn da gemacht?"

"Nichts mehr, er hing da am Seil."

"Ach, und wer spült dir jetzt deine Bierleitungen?"

Bernhard Roth
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Re: Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

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Erinnerungen an die Stadt der tausend Feeuer

Am Tag von Walters Heimgang konnte sich der Himmel mal wieder nicht entscheiden, ob er sofort in Tränen ausbrechen sollte wie Walters Witwe an Walters offenem Grab. Der junge Maann an ihrer Seite konnte nur ihr gemeinsamer Sohn sein, niemand anderer als Walter hätte dem Junior diese mächtige Krummnase vererben können.

Die Krähen im kahlen Geäst übertönten heiser das verhaltene Gemurmel, vervollständigten so aber die Szenerie. So gibt man nicht nur jemanden das letzte Geleit, der sich einen Dreck um Konventionen und einem Guten Ruf geschert hat. Er war das schwarze Schaf der Familie. Warum weinte hier an seinem Grab die Witwe? Vielleicht hat er sie mit zunehmenden Alter nicht mehr so oft verprügelt, wenngleich auch das kein Grund zum Weinen ist. Doch wen läutert das Leben nicht? Das lange Geleit dieser Trauergäste war immerhin um ein Vielfaches manierlicher als Walters früherer Bekanntenkreis.

Sein älterer Bruder Ernst war auch da. Obwohl er an Körperfülle mächtig zugelegt hatte, erkannte ich ihn gleich wieder. Nie würde ich wie er seine so imposante Kinnlade, wie sie ihm die Natur geschenkt hat, mit einem Bart verdecken. Mit seiner Visage hätte er Darsteller knallharter Gangsterbosse und markiger Schiffskapitäne beim Film werden können. Einst war er Mitglied jener legendären Luftlandetruppe, die im Krieg den Duce Mussolini auf Kreta herausgepaukt und der US-Army bei Mon te Cassino so reichlich zu schaffen gemacht hat. Kurzum, diese beiden kantigen Brüder, Ernst und Walter verkörperten als aussterbende Spezies, jeder auf seine Art, für Gelsenkirchen das, was der Cowboy für Texas und der Kosak für Russland ist.

Der Einzige, vor dem Walter Respekt hatte, war eben dieser Bruder. Der hat ihm mal die Leviten gelesen, weil er ein Kind nach dem anderen in die Welt setzte, ohne sich groß um seine wachsende Familie zu kümmern. Kleinlaut und treuherzig hat Walter damals erklärt, anfangs habe er noch den Interruptus praktiziert, dann aber aufgegeben, weil er davon immer Kreuzschmerzen bekommen habe.

Es war auch so ein grauer Tag, als wir mit der Straßenbahn in Richtung Rotthausen unterwegs waren. Die Bahn zockelte damals durch die Bahnunterführung des Hauptbahnhofs, bog schließlich mit quietschenden Rädern in den Wiehagen ein. Es war die Zeit der jeweils mit zwei uniformierten Schaffnern besetzten Trambahnen. Einer bediente vorne die Kurbel, der andere kassierte. Stopp and Go signalisierte er über eine Zugschnur, an deren beiden Enden eine Klingel Laut gab. Zentralverriegelung gab es damals noch nicht, jeder konnte jederzeit nach Belieben die Türen öffnen.

Auf der hinteren Plattform unterhielten wir uns. Ernst erzählte uns - meinem Kumpel und mir - wieder in seiner gönnerhaften Art, dass wir "jungen Burschen" so gar keine Ahnung hätten, wie sie beim Militär gestrietzt und geschliffen wurden bis sie endlich topfit und für würdig befunden wurden, in die Eliteeinheit der so genannten grünen Teufel aufgenommen zu werden. Die nächste Haltestelle nach der Quietschkurve war Ernsts Zielstation. Wir ahnten nicht, dass er uns jungen Burschen noch eine Kostprobe seines Könnens vorführen wollte. Erst wunderten wir uns, dass er statt an seiner Zielstation Schwanenstraße auszusteigen, seelenruhig mit uns weiterredete. Der Schaffner signalisierte an der Lederschnur "Go", die Tram nahm wieder Fahrt auf. Da öffnete Ernst lässig die Tür, Sagte: "Also bis dann" und stieg aus. Entweder hatte er seine Trainingspause oder die Geschwindigkeit der Bahn oder Beides unterschätzt. Wie ein ins Wasser springender Frosch landete er bäuchlings auf dem harten, regennassen Kopfsteinpflaster. Nicht mehr so lässig rappelte er sich auf, hastete um die Ecke Richtung Schwanenstraße.

Da stand auch schon der uniformierte Fahrkartenknipser mit strenger Amtsmiene bei uns, redete von groben Unfug, fragte nach Namen und Adresse, bohrte weiter: "Ihr kennt den doch, habt euch doch mit ihm unterhalten!" Es lag offenbar fern seiner Vorstellung, dass man sich in Gelsenkirchen länger mit Unbekannten unterhält.

zum Glück war Walter nicht dabei. Er hätte frei heraus getönt: "Ja sicher, dat is unser Ernst, der macht immer sowat."

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