Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

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TheoLessnich
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Cosmocontrol

Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung

Der technische Stand dieser Spezies rechtfertigt einen Inspetionsintervall von fünfhundert Erdenjahren. Andere Spezies im Kosmos können sie mit ihrem Destruktionspotential noch nicht erreichen. Ihre Raumantriebe erlauben im Vacuum eine Geschwindigkeit von maximal cirka Mach 50, also die fünfzigfache Fortpflanzungsgeschwindigkeit ihrer Schallwellen in ihrer Erdatmosphäre. Allein um damit ihr Nachbargestirn Alpha Centauri erreichen zu wollen bnötigen sie eine Gesamtzeitdauer von rund 7 Millionen Erdenjahren; individuell hingegen erreichen sie eine Lebensdauer von maximal 100 Erdenjahren. Sie sind noch lange nicht in der Lage, Energiemengen zu kinetisieren, um in die intergalaktische , geschweige denn interkosmische Raumfahrt einzutreten. Höchste Wachsamkeit und gegebenenfalls Intervention ist aber geboten, wenn ihre Entwicklung diesen Punkt erreicht.

Dann wäre zu prüfen, ob sie inzwischen von der genitalheterogeschlechtlichen Fortpflanzung auf kontrolliert kognitive Methoden übergegangen sind. Denn gerade in der von ihnen noch immer praktizierten, sogenannten sexuellen Methode manifestiert sich repetitiv ein schier endloses Agressionspotential. Neben dem eigentlichen, so auch in dem prä-, wie posthumen Akt überlagern ihre Affektionen weitestgehend das kognitive Potential ihrer Neokortex.

So muss sich noch herausstellen, ob sie später in der Lage sein werden, ihre neuronale Steuerung in allgemeinverträgliche Richtungen zu bringen, bevor sie in die Gemeinschaft der raumfahrenden Populationen aufgenommen werden können. Bisher war ihr Umgang mit ihrer eigenen Spezies stets von dem Recht und der Gewalt des Stärkeren bestimmt, von Eliminierung, Ausbeutung und Unterdrückung. Wenn diese Tendenz andauern wird, muss zum entscheidenden Übergang die Kontaktaufnahme zu anderen Lebensformen unbedingt unterbunden werden.

Wachsamkeit ist hier dringend geboten, obschon es offenbar eine noch nicht erforschte höhere Ordnung gibt, welche die Selbsteliminierung solcher Arten determiniert. Dass es einer solchen Spezies vielleicht doch gelingt, ihr destruktives Potential zu penetrieren, kann mit letzter Sicherheit nicht ausgeschlossen werden.

TheoLessnich
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Schusters Rappen schärft den Blick fürs Detail

Beitrag von TheoLessnich »

Vor der Asphaltierung machte revierschwarzer Achebelag ihn bei jedem Wetter passierbar, diesen Fußweg von der Ecke Rotthauser Straße - Wiehagen zur Bromberger Straße. Ein schnell zusammengezimmerter Zaun aus Draht und Second-Hand-Latten trennte ihn vom Bio-Anbau privater Selbstversorger: Stangenbohnen, Erbsen, Möhren; gutbürgerliche Vitaminkost à la Saison. Jetzt versorgt dort ein Supermarkt saisonunabhängig mit allem. Weiter hinten in Richtung Bromberger Straße ist der Fußweg von Holunder-, Linden-, Platanendickicht, von Kräutern und wilden Gräsern eingesäumt.

Das ehemalige Olex-, spätere BP-Gelände, anscheinend zeitlos das eiserne Schiebetor, das ehemalige Magazin, das Öllager, sogar noch ein mickriger, gelb grüner Tankwagen, doch residieren hier jetzt ein Elektro- und ein Heizungsbauunternehen. Keine Spur mehr von der kriegsinvaliden Wohnbaracke vis à vis, dem Rudel abgerissener Kinder davor wo jetzt eine einsame Teppichklopfstange vor einem properen Mehrfamilienhaus kleinbürgerlichen Lebenstil stumm widerspiegelt. Auch keine Spur mehr von der schmalen Holzbrücke auf Stahlträgern und dem alten Bahnhofsgebäude aus Backstein; allerdings glänzt nur noch eine Doppellauffläche des Gleiskörpers silbrig, alle anderen Spuren sind rostrot. Akkurat genormte Gehsteige, eingebettet in sattestem Grün, pastellfarbenen Blüten, einem ätherischen Hauch wilder Rosen und Dreiwegekats, das ist die neuere schnurgerade Autopiste über all dem. Bad Irgendwo.

Ganz unidyllisch war das alte Rotthausen, wo noch viele Räder alle Laufflächen des dreispurigen Schienenwegs blank polierten, noch hoch über den Häusern und Köpfen der Menschen die alte Seilbahn schwebte. Da herrschte die strenge aus Schwarz-, Weiß-, Grautönen bestehende Nachkriegswirklichkeit wie auch die derzeitigen Schnulzen- und Wildwestfilme vor der Technicolor- und Breitwand-Ära.

Da forderte noch die Zeche Dahlbusch ihren Tribut. Für ihr schwarzes Gold nahm sie den Berglmännern die Lebenskraft, behielt manche ganz, verdaute sie in der Glut ihrer schlagenden Wetter. Einige Zeit verlieh ihr noch das Gatter hinter dem Grünspalier den trügerischen Anschein eines verwunschenen Schlosses. Vielleicht wird sie irgendwann irgendein Investor zu einem Reiterhof, einem Fun-Park reanimieren. All jene werden vergessen sein, die hierher kamen und schon hier waren, mit Schlegel und Eisen, mit Hacken und Pannschüppen diese untergegangene Welt hier schufen, Konjunkutschübe, Rezessionen, den Ruhraufstand, Noskes Massaker erlebten, die Arbeiterbewegung gründeten, diese reiche aber bald vergessene Geschichte des Ruhrgebiets schrieben. Das Malochen brauchte man sie nicht lehren, man lehrte sie das Singen wie: "Bergmannblut hat frohen Mut" und "Ist die saure Schicht vollbracht ..... eilt er zu Weib und Kind". Was sangen sie? "Stacho kam aus Polen, simserimsimbim..." und "Schwein geschlacht und Wurst gemacht...", "ein Glück, dass wir noch saufen..."

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Streiflichter aus dem Leben eines Anquatschtypen

Beitrag von TheoLessnich »

Der Ernst des Lebens holt jeden mal ein. Warum bin ich nicht Politiker geworden? Kein Schmierbauch, keine Tränensäcke, keine Akne, kein Mundgeruch. - Darum! Auf seine eigenen Fragen hatte Ludger immer Antworten. Aber ihm war klar geworden, das muss sich ändern. Immer öfter verlangten auch Andere Antworten von ihm. Berufsalternativen? Beamter, Lehrer, Schauspieler, Callboy? Für Letzteres war wohl seine Nase zu krumm und spitz, das Kinn fliehend. In der Schule hatte ihm das den Sptznamen Spatz eingebracht. Was er aber schon war, ein Anquatschtyp. Er dachte, das läge an seinen dunklen Traumaugen, dem schwarzen Haarschopf, und Ludger glaubte noch immer unverdrossen, was er dachte.

Eigentlich war er damit gar nicht so unzufrieden. Er ließ sich gerne anquatschen, besonders von Frauen, am liebsten von attraktiven. Klar, Frauen, die Kerle anquatschen, sind dominant, das passte gut, denn er war so gut wie nie der initiative Part. Gegensätze sollen sich ja anziehen, eine zeitlang wenigstens, stoßen sich dann wieder ab. Auch das war ihm recht. Tränen, Abschiedsszenen hasste er. Vielleicht hätte er sogar noch einmal geheiratet, wären die Scheidungsanwälte nicht so verdammt teuer.

Was ihm nicht passte, dass er im Leben noch nichts rechtes erreicht hatte. Das wollte er endlich ändern. Auch in seiner engen Gefängniszelle fand er später keine plausible Antwort auf die brennende Frage: Versündigt sich der Bedeutungslose wenn er alle Anstrengungen unternimmt, aus diesem Gefängnis der Bedeutungslosigkeit herauszukommen?

Bei Ludgers früherer Firma waren wenigstens die Aussichten aus dem Fenster besser. Immerhin: ein Greifvogel über dem Acker jenseits der toten Straße, eine Linie Strommasten, eine Raffinerie, Hochtanks, züngelnde Flammen. Sein neuer Ausblick, nur eine eingeschwärzte Ziegelmauer mit klaffenden Fugen, ähnlich einem Gebiss, das nur noch zum Pfeifen in stereo taugt. Nur selten zauberte etwas in die Einfahrt eingestreutes Sonnenlicht einen morbid melancholischen Glanz auf die meist regenfeuchte Wand. So war auch hier die Stimmung.

"Haben Sie Termine?" Die Stimme seines neuen Herrn, immer etwas zu leise, viel zu tonlos, kalt wie Trockeneis. "Termine?" Diese stereotype Frage hallte ständig in Ludgers Kopf noch bis spät abends, wenn er auf den Schlaf wartete.Er blickte über die Schulter. Dies war Original, kein Echo. Sein neuer Boss höchstpersönlich. Ludger murmelte etwas Unverständliches, woraus der Chef zutreffend schloss: Er hat noch keine Termine.

"Und dann sitzen Sie nur so daherum? Wollen Sie sich denn die Termine aus der Nase bohren?"

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Fortsetzung Streiflichter aus dem Leben eines Anquatschtypen

Beitrag von TheoLessnich »

Kurz zuvor war Ludgers Selbstbewußtsein noch im Turbolift. Er erfüllte sich seinen Jungentraum: einen 12-Zylinder-Jaguar. Angezahlt mit einem stattlichen Vorschuss, für dessen Abarbeitung er noch unabsehbar lange an diesem Laden gefesselt sein würde. Das war der Ritterschlag zum idealen Verkäufer. Schulden wie ein Sautreiber und ausgeträumt der Traum vom Kündigen, da kann man nur noch gekündigt werden, um dann ohne Geld und dem gletscherweissen, aber unverkäuflichen Jugendtraum mit der springenden Katze auf der Straße zu stehen. Davor graust es sogar den Single.

Weniger als achtundvierzig Stunden später bewegte sich wieder der Turbolift, jetzt der Schwerkraft folgend. Den Vertrag, den Ludger mitgebracht hat, hätte er besser unterwegs verloren. Wiedeer das Frageprblem! Statt zu antworten, hatte er gestottert, der Vertrag war schon unterschreiben, wurde dann zerrissen.

"Es ist mir völlig unverständlich, wie man einen schon unterschriebenen Vertrag wieder aus der Hand geben kann..."

Ludger verstand ja, dass sein Boss von dieser Eselei nicht begeistert war, ihm massive Vorwürfe machte, - doch warum sprach er nicht so leise wie sonst immer? In dieser gehobenen Lautstärke machte dieses androgyne Stimmorgan augenblicklich die Zähne stumpf, hörte sich an wie Schmirgel auf Glas.

Er griff wieder hinein in das Füllhorn staubiger Karteikarten, begann zu telefonieren:

"Hier Steltner von der Firma W & T Büroeinrichtungen. Wer ist in Ihrer Firma verantwortlich für die Büroorganisation?"

"Worum es geht? ... Ich möchte klären, ob wir füreinander geschäftlich interessant sind. Bitte verbinden Sie mich jetzt mit Herrn .....ö wie war noch gleich der Name?"

Eingehängt - A loch!

Hier Steltner von ............, äh, ist Frau Lennarz bitte zu sprechen?"

"Hallo Britta! Hast du viel zu tun? Ich mach´gerade mal eine schöpferische Pause."

"Schon gut, schon gut, - ja hast du gesagt, dass ich dich nicht am Arbeitsplatz anrufen soll. Wollte ja nur hören, ob wir uns heute Abend treffen können..."

In der Disco haben sie sich kiennen gerlernt. Erst tauschten sie ihre Visitenkarten aus, wenig später Streicheleinheiten. Auf ihrer Karte stand was von Promotion und Werbeassistentin. Er nur Vertriebsbeauftragter, aber eine springende Katze auf der Motorhaube. Brita war - wie bisher alle Frauen in seinem Leben - dominant. Im Bett forderte sie von ihm die passive Komfortstellung. Sie ritt wie Lillit erhobenen Hauptes, hob final verklärt das Gesicht zur Zimmerdecke als habe sie eine Erscheinung. Vielleicht wurde auch ihr eine geheime Offenbarung zuteil wie dereinst den Hirtenkindern in Fatima. Bei dem Gedanken musste sich Ludger das Lachen verkneifen, denn was er hier gerade trieb, gilt ja gemeinhin als ernste Angelegenheit, bei der man durch Lachen Freundschaften nachhaltig verderben kann.


Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung - Anquatschtyp

Beitrag von TheoLessnich »

Am besten lacht es sich ohnehin mit Anderen, wenn die Anderen schon das Lachen angefangen haben. Bei der Anmache hatte Ludger gleiche Erfahrungen gemacht, er ließ die Frauen lieber auf sich zukommen. Immer wenn er von dieser goldenen Regel abgewichen war, hatte er Probleme. So auch in dem Karriereghetto.

Waren samt und sonders unbedarfte Leute, die da unter autoritärer Anleitung in das kleine Einmaleins des Verkaufens im Außendienst eingeführt wurden. Entsprechend war die Überheblichkeit der so genannten Trainés. Der Oberguru war mit der einzigen weiblichen Teilnehmerin dieser Verkaufsschulung offenbar mehr als nur geschlechtlich liiert. Geschmack hatte er.

Ludger war sicher, all diese jungen Verkaufsadepten hätten abends artig in Klausur den Lernstoff des Tages nachgebüffelt, wenn der Oberguru diesen Lichtblick von Frau nicht mitgebracht hätte. Sie kamen doch nicht alle abends wegen des schwitzenden Barkeepers an die teure Bar. Irgendwie ergab es sich, dass sie immer wieder neben Ludgers Barhocker stand. Das war ihm schon sehr recht. Doch warum um Himmels Willen quatschte sie ihn nicht endlich mal an? Sollte er etwa? Es fiel ihm gar nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie ganz ohne dieses hautenge Kleid aussähe. Waren da weiter tiefer, jenseits der Grenze des Ausschnitts noch mehr Leberflecken?

Da musste doch so ein Kobold einen Bunsenbrenner unter Ludgers Sitz praktiziert haben. Hastig kletterte er von seinem Hochsitz herunter, für den Bruchteil eines Augenblicks spürte er elektrisierend ihren chiffonverpackten Busen, schob ihr fahrig den Barhocker hin, wollte ihr hinauf helfen, war aber nicht nötig. Verdammt, ich muss etwas sagen, - nur was?

Cool bleiben! "Sie kommen dem gängigen Schönheitsideal verdammt nah," erst mal räuspern, mit dem Wodka-Tonic den Schlund freispülen. Warum lächelt sie nicht mehr? "Na ja," versuchte er die Konversation zu retten, "ist gar nicht so alltäglich, dass attraktive Frauen wie Sie auch noch intelligent sibnd. Aber das wissen Sie ja selbst, warum sage ich das eigentlich?"

Es hörte sich an, als stießen zwei superlangstielige Sektgläser aneinander. Das war ihr Lachen, es steigerte sich zu einem Prusten.

"Das ist zu komisch", keuchte sie, "Ihre Komplimente!"

Der Schulungsleiter am anderen Ende der Bar verlor sichtbar die Konzentration auf das da soeben noch lebhaft geführte Gespräch. Zerstreut sah er in immer kürzeren Abständen zu ihnen herüber. Das kann doch nicht wahr sein, dass mir dieser komische Sperber die Frau ausspannt, mag er gedacht haben.

Lachen befreit. Ludger war locker geworden. Die Situation fing an, ihm vertraut zu werden. "Wenn Sie denken, was ich glaube, dann wären wir in meinem Zimmer vor Überraschungen von aussen sicherer."

Sie glaubte das auch. Das Pferdegesicht des Schulungsleiters war am anderem Tag noch länger als sonst, so lang wie Ludgers Beurteilung. Die alleerdings hätte er sich besser von ihr schreiben lassen.

TheoLessnich
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Altstadt

Beitrag von TheoLessnich »

"Der Neger wackelt, er taumelt - er ist angeschlagen.....,"schepperte die blecherne Lautsprecherstimme hysterisch über den Köpfen der Zuhörer. Das war die achte Runde. Wird ten Hoff es tatsächlich schaffen, Joe Walcott zu schlagen?

Locker gruppiert standen hier die Gelsenkirchener in der lauen Luft vor dem Bahnhofsvorplatz. An einem Mast war eine Lautsprecherbox installiert. Hier wie an vielen anderen öffentlichen Orten folgten die Menschen gespannt das Sportereignis. Der schon etwas in die Jahre gekommene Ex-Weltmeister, er kam nach Deutschland, nahm die Herausforderung des langen Hein an und deklassierte ihn klar nach Punkten. Aber unser Mann hatte den seit Jahren an der Spitze der Weltrangliste stehenden Champion aus den USA zwölf Runden Paroli geboten, und das war fast schon ein Sieg, mehr noch ein come back für ganz Deutschland.

Nostalgie und Verlegenheit - Letzteres deswegen, weil es mir beinahe unmöglich erscheint, die mir selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen, über das zu schreiben, was mir so typisch für meine Geburtsstadt Gelsenkirchen erscheint.

Die Glenn-Millersche und auch sonstige Angloamerikanisierung , die Adenauersche Abgrenzungsradikalität, der Erhadsche Kenseyanismus, all das war sicher zeittypisch, doch weniger typisch für Gelsenkirchen, außer dass damals die Ruhrregion und damit auch Gelsenkirchen mit ihrer Produktivität, ihrer Kaufkraft der Anlasser des Aufschwungs und bis Anfang der Sechziger das dominante Triebwerk der Nachkriegs-Konjunktur blieb.

So lasse ich mich auf den Schwingen der Nostalgie zurücktragen auf den Bahnhofsvorplatz mit dem blechern tönenden Lautsprecher über den Köpfen der Lauscher, sehe wieder dieses rothaarige Mädchen. Warum war ich nur so schüchtern, habe sie nicht einfach angesprochen, zumal sie doch meine Blicke erwiderte? Ich war doch ansehnlich, trug ich doch den fast neuen Bogard-Staubmantel meines älteren Bruders mit jenen gemischten Gefühlen: - Wenn der doch wieder aus Russland nach hause kommt? Hatte ich ihn etwa schon abgeschrieben? Und ich sah und sehe noch immer diesen vom Jugendstil angehauchten Hauptbahnhof - war er wirklich so provinziell? - Und vis à vis das stuckverzierte Bahnhofshotel. etwas weiter die alte Badeanstalt. Nur das alte, ehemalige Postgebäude und das Hotel zur Post blieben von der Spitzhacke der Planungsberserker verschont, - alles andere wurde ersetzt von etwas, das besser wie die U-Bahn unvollendet geblieben wäre, auch wenn allein dadurch aus Scheußlichkeiten noch lange nicht Beethovens Neunte wird.

Fortsetzung folgt

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Altstadt

Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung

Das alles mag typisch oder untypisch sein. Darüber will ich nicht befinden. Doch um dem Stadtcharakter einigermaßen gerecht zu werden, kommt man wohl nicht umhin, zu unterscheiden zwischen der eigentliche Stadt und der Stadt, die man in den Hochglanzbroschüren und Prospekten, den PR-Produkten wiederfindet. Letzteres kam mir immer wie eine kolonial willkürliche Katalogisierung vor, die sich letztendlich widerspiegelt in den konsumtiv gestalteten, polyzygotischen Inurbanitäten, in denen historisch gewachsene Bausubstanz die corporate identity, den gleichmachenden Franchisecharakter nachhaltig stört und damit die Eliminationswut der Abrissbirnen auf sich zieht.

Gelsenkirchens Herz schlug nicht in der gläsernen Ödnis des Stadttheaters, nicht im extrasystolischem smal talk der Schön- und Feingeister, die ihren satten Humus gegen die schizoide Sterilität der Illusionen getauscht haben. Das Herz der Stadt schlug im Stadtkeller, im Klosterbräu, im Tiergarten - mächtig und dumpf hämmerte es dort im Rhythmus der Schlagzeuge, Trompeten, Saxophone. Oft und gern führte ich den Staubmantel meines Bruders mit meiner Spätpubertät dort hin zum "Witwenball". Im stampfenden Jazzrhythmus trafen sich dort samstags, sonntags all die Lebenshungrigen dieser Stadt, denen angeblich das Leben, in Wahrheit jedoch die Machthaber so viel vorenthalten haben, denen die Kriegstreiber die Jugend, die Ehemänner geraubt haben. Hier zählten keine Standesunterschiede, hier deckten alle ihren Sex-Nachholbedarf.

Die jungen Frauen waren so etwa ein Jahrzehnt älter und erfahrener als ich. Sie zierten sich nicht lange wie die kichernden "Backfische" im Tiergarten um die Ecke, sie störte es nicht, dass ich noch Schüler-Lehrling, noch nicht finanziell so flüssig war, sie bedienten mich und sich einfach mit meiner jungen ungebrochenen Vitalität. Das war wohltuend in jener puritanisch bigotten, politisch abstinenten Gesellschaft, die den Geschlechtsverkehr tabuisierte, die Nazigreuel verdrängte, unfähig war zu trauern und - kaum davongekommen - Adenauer und Konsorten schon wieder die Remilitarisierung erlaubte.

Fortsetzung folgt

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rascall
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Beitrag von rascall »

Die jungen Frauen waren so etwa ein Jahrzehnt älter und erfahrener als ich. Sie zierten sich nicht lange wie die kichernden "Backfische" im Tiergarten um die Ecke, sie störte es nicht, dass ich noch Schüler-Lehrling, noch nicht finanziell so flüssig war, sie bedienten mich und sich einfach mit meiner jungen ungebrochenen Vitalität.
"...und es war Sommer…"
:wink:
Aus den Trümmern unserer Verzweiflung bauen wir unseren Charakter(Ralf Waldo Emerson)

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Humanmedizin

Beitrag von TheoLessnich »

Die Tür zum OP schwingt auf. "Kann ich jetzt zu ihr?"

"Es hat Komplikationen gegeben. Wir konnten leider nichts mehr für Ihre Frau Mutter tun. Sie hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt, sie hat also nicht gelitten."

Karin setzt sich wieder, starrt auf den gekachelten Boden.

"Ihre Mutter ist noch an der Maschine angeschlossen", hört sie den Mediziner, "Puls, Atmung, alle Lebensfunktionen sind noch intakt, nur das Gehirn ist - tot. Keine Soge", spricht er hastig weiter, "von Organspenden würde ich zur Zeit absehen, Ihre Mutter ist schon hoch betagt und nach den jüngsten öffentlichen Diskussionen, sie wissen schon, lassen wir etwas Gras wachsen. Allerdings, gnädige Frau, wenn Sie einen Kinderwunsch haben und um Ihre makellose Figur fürchten, der Uterus Ihrer Mutter ist noch voll funktionsfähig."

Karin springt auf: "Sie meinen....?"

"Ein Glücksfall! Wäre jammerschade, so eine Gelegenheit ungenutzt zu lassen. Wir haben eine lange Liste junger Frauen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, aber nicht selbst austragen wollen. Einige von ihnen sind gut situiert", dehnt der Weißkittel vielsagen, "würden sich so eine Chance gern etwas kosten lassen."

"Aber," - Karin atmet schwer,"wie würde das denn vonstatten gehen?"

"Reine Routine! Wir saugen Ihnen - oder irgendeiner anderen potentiellen Mutter - ein Ei ab, befruchten es in vitro und pflanzen es in den Uterus Ihrer anenzephalen Mutter ein. Auf Wunsch können wir die Schwangerschaft um cirka die Hälfte verkürzen, wenn wir Steroide, also Wachstumshormone in die Überlebensapparatur eindosieren. So verlängern wir auch die Funktionabilität des Uterus um bis zu fünf, sechs Schwangerschaften. Nur erschrecken Sie nicht," er lächelt smart, "wenn Ihre gehirntote Mutter mit den Hormonen dann auf etwa das Doppelte ihrer jetzigen Größe mitwächst. Die Zeiten der Körperverlängerungen bis zu fünf Metern sind vorbei, die Hormondosierung haben wir jetzt im Griff. Ihre Frau Mutter selbst merkt davon selbstverständlich nichts, dafür verlaufen die später folgenden Geburten durch die Körpervergrößerung umso glatter."

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Humanmedizin

Beitrag von TheoLessnich »

Karins Augen sind geweitet. "Aber, Herr Doktor, bitte ....!"

"Sehen Sie das ist doch voll im Trend, im Wirtschaftsleben schon ewig lange, die Wirtschaft wächst ins Unermessliche, und alle haben was davon."

"Ach ja, ist die Wirtschaft dann auch anenzephal?"

"Aber, gnädige Frau", er runzelt die Stirn, "ich bin kein Wirtschaftsfachmann, doch als Mediziner ist es meine Pflicht, Sie über alle medizinischen Optionen aufzuklären, ich wäre doch töricht, Ihnen nicht den Nutzen aller Igel-Leistungen anzutragen. Dabei leiste ich meinen sozialen Beitrag gegen den hierzulande verheerenden Geburtenrückgang. Mit dem human exploitation act (HEA) hat Brüssel hier auch juristisch Klarheit geschaffen. Sie könnten sogar gerichtlich gezwungen werden. Leider nur ist das Verfahren noch immer viel zu kompliziert und zeitraubend. Da besteht noch Nachbesserungsbedarf, na, die Lobby wird es schon richten. Aber Sie sind doch eine moderne, vernünftige Frau, nicht wahr?"

Mutter, dachte Karin, war gar nicht modern, eher altmodisch und trotzdem vernünftig. Oder doch nicht? Und ich? Warum bin ich wie sie?

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Der Mensch lebt nicht vom Bier allein

Beitrag von TheoLessnich »

Damals glich die Gegend noch einem Freilichtmuseum. Lange interessierte sich kein Immobilienhai für diesen geschwärzten Steinkasten aus der Gründerzeit, die Aufsichtsbehörden auch nicht. Der kränkliche Zeitungskiosk im Erdgeschoss lebte innerhalb der nächsten drei, vier Bushaltestellen ohne Konkurrenz von etwas Laufkundschaft. Die Kneipe, auch im Erdgeschoss, lebte von ein paar gestandenen Kampftrinkern aus der nächsten Nachbarschaft. Die Pächter kamen und gingen wie der Regen und Smog, niemand merkte sich ihre Namen.

Der Bierakademiker hatte in dem Haus eine feuchte Mansardenwohnung. Eigentlich war er mehr Inventar unten in der Gaststube. Nach Art der Coolen trug er die abgewetzte Basecape mit dem Schirm im Nacken. Ein Büschel seines Rotschopfs stand immer vorne aus dem Mützenschlitz. Das Auffälligste an ihm war sein Unauffälligkeit, man bemerkte ihn erst, wenn er nicht da war. In seiner gebeugten Haltung, dem nach Innen gerichteten Blick seiner wasserhellen Augen war er die Inkarnation der Traurigkeit.

"He, wo ist der Bierakademiker?" Gebärdensprache ist angesagt. Wie ein schwarzes Loch verschluckt die Musikbox die räumliche Phonetik, der Rest geht im Gestampfe der Knobelbecher und dem Gegröle der Marathonsäufer unter. Wer tut sich dieses Technogewummer freiwillig an, kann der Wirt den Säufernachwuchs nicht mehr anders rekrutieren?

"He, der Bierakademiker, wo steckt der?" Einen bürgerlichen Namen schien er gar nicht zu haben und wenn doch, kannten den wohl nur sein Vermieter und seine im Sauerland lebende Schwester. So wurde sein Spitzname sein Titel, sein Logo, seine Identität, wiewohl ihn sein Bierverlag schon vor einer halben Ewigkeit gefeuert hatte. Er muss kapiert haben, man kann nur wirklich sein, was man tut, und wer will schon nichts sein? Das mag der Grund gewesen sein, dass er hier in dieser Kneipe in immer kürzeren Zeitabständen und mit immer längeren Schluckpausen weiter stoisch die Bierleitungen spülte. Zapfhähne fettete, Pressluftanschlüsse kontrollierte.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Der Mensch lebt nicht vom Bier allein

Beitrag von TheoLessnich »

Je später der Abend umso öfter überkam den Bierakademiker der Wunsch, sich mit seiner Schwester, vielleicht über die gemeinsame Kindheit und Jugend, zu unterhalten. Die Kumpel packten ihn dann gegen einen Obolus für Benzin und mit der Zusage, ihn zu seiner Schwester zu bringen, ins Auto, fuhren ihn so lange um den Häuserblock bis sie ihn selig eingeschlummert ins Bett bringen konnten.

In der Vorweihnachtszeit spielte der Wirt schon mal eine andere Platte in der Art: "Stille Nacht". Seine Gäste liebten es dann stimmungsvoll. Auf dem runden Stammtisch stand so ein einsamer Leuchtturm, ein illuminiertes Mehrwegbäumchen, an der Bar weinten Kerzen wächserne Tränen. Verklärt röhrten die Gäste die süß klingenden Glocken, andere räusperten und schnieften öfter als sonst. Der Bierakademiker studierte blinzelnd die ihm doch eigentlich sattsam bekannte schmuddelige Tapete. Doch noch vor dem Höhepunkt dieser Spirituosensitzung war sein Stamm-Barhocker am Ende des Tresens verwaist.

"He, he, wo war denn der Bierakademiker?" Die Juke-Box legt gerade erschöpft eine Pause ein. Der Wirt kommt näher. "Du warst bei unserer Adventsfeier doch auch hier?" fragt er leicht schnaufend. "Hast du denn nichts gehört?"

"Was soll ich gehört haben?"

"Also, der Bierhahn fing auf einmal an zu spucken. Aber der Bierakademiker war nicht da! Da haben wir ihn gesucht. Im Klo war er nicht. Seine Bude da oben stand sperrangelweit offen, das Fernsehen lief. Was meinst du wohl, wo er war?"

"Na sag schon!"

"Nebenan auf dem Dachspeicher."

"Was hat er denn da gemacht?"

"Nichts, er hing da am Seil."

"Ach, und wer spült dir jetzt deine Bierleitungen?"


PS. Ich habe mir herausgenommen, die Geschichte etwas aufzupeppen. Der Bierakademiker ist ganz unspektakulär durch eine Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben geschieden. Doch alles Andere ist die Wahrheit. Ehrenwort!

friedhelm
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Kneipe

Beitrag von friedhelm »

Eine tolle, typische Kneipengeschichte aus dem Revier....Mehr davon !

TheoLessnich
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Menderitzkis Schwiegersohn

Beitrag von TheoLessnich »

@Friedhelm - bitte sehr


Die Emschertalbahn an der Bismarckstraße hatten wir hinter uns gelassen. Bim, bim Schranke zu. Er ging neben mir her und redete: "Mein Schwiegersohn muss eine Schüppe in die Hand nehmen können...." Er war noch nie neben mir her gegangen, viel geredet hat er sonst auch nicht. Jetzt ließ er mich gesprächig wissen, dass er - sagen wir - nichts von Konditoren und noch weniger von kaufmännischen Angestellten hielt. "Das sind doch keine richtigen Kerle," wiederholte er, "die können keine Schüppe in die Hand nehmen."

Ich war kein kaufmännischer Angestellter, fühlte mich trotzdem angesprochen, war ich doch als Lehrling auf dem Weg dahin. Vielleicht hätte ich ihm einiges geklärt oder gar aufgeklärt, wäre ich junger Spund nicht so zurückhaltend gegenüber Alten gewesen. Hätte ihm an seinem Schwiegersohn auch gestört, wenn der am Entlassungstag aus dem Knast von seiner Frau einen Empfang mit Kaffee und Kuchen verlangt hätte, wie hätte er ihn eingeschätzt, wenn er an diesem Tage des Wiedersehens zu Hause nur im Kreise seiner Kinder vor der leeren Tafel stände, weil die Frau dann lieber einen Stadtbummel macht, so wie es ihm immer ergangen ist?

Doch von vorne. Es fing wohl an, als in der Nachbarschaft eine blonde Schöne auftauchte. Mein Spezi sah immer besser aus als ich und hatte auch die besseren Chancen beim anderen Geschlecht. Wie immer war er auch bei dieser Schönen sofort am Ball. Nur mit des Geschickes Mächten..., hier in persona der mittleren Tochter meines Wegbegleiters, nennen wir ihn in der Art des Ruhrgebietsadels einfach Menderitzki. Diese Tochter hatte fest entschlossen mehr als nur ein Auge auf meinen attraktiven Kumpel geworfen, wich ihm nicht mehr von der Pelle, verhinderte so jede aufkommende Intimität mit der schönen Blonden. Das erboste ihn gewaltig, und er schwor, dafür leg ich sie um und schieß´ sie dann in den Wind. Da er außerdem die Schule geschmissen hatte und jetzt an und im Pütt bewies, dass er eine Schüppe in die Hand nehmen konnte, passte er auch nahtlos in Menderitzkis Vorstellung von seinem Schwiegersohn.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Menderitzkis Schwiegersohn

Beitrag von TheoLessnich »

Mein Glück. Bahn frei! In der Laube hinter dem Haus hätte ich mir in dem Liegestuhl beinahe das Rückgrat verbogen; stimmt wohl, dass Kaufmännische und Konditoren nicht allzu praktisch veranlagt sind. In ihrer Assistenz fanden wir dann schließlich doch die optimale Sitzhaltung, um das in vollen Zügen zu genießen, wozu man eigentlich den kirchlichen Segen brauchte, dabei fanden wir schnell - auch ohne apostrophierende Erklärung - heraus, dass wir trotz unserer frühen Jugend Mann und Frau waren.

Nachdem ich in meiner jugendlichen Dummheit, ich schwöre ganz ohne Hintergedanken, eben diese Menderitzki-Tochter aus einer Laune heraus zu einem Kinobesuch eingeladen hatte, worauf sie einging, nicht ohne noch eine Freundin mit einzubeziehen, gerieten wohl Menderitzkis Pläne in Unordnung. Was bildet sich dieser angehende kaufmännische Angestellte ein?

Erst als mein alter Kumpel mit ebendieser Menderitzki-Tochter mit kirchlichem Segen und nach all dem daran hängenden, bürgerlichen Schnickschnack zwei Kinder gezeugt hatte, erfuhr ich, dass es in der Familie eine Auseinandersetzung gegeben hatte. Die Mutter hätte lieber mich als Schwiegersohn willkommen geheißen, er lehnte mich strikt ab. Beide ahnten gar nicht, dass es die strittige Alternative real nicht gab.

Ein langer Kohlenzug rumpelte lautstark über die Bismarckstraße. Ich hörte nicht mehr Menderitzkis Ausführungen, was er für männlich und unmännlich hielt. Irgendwo ist er wohl in eine Seitenstraße abgebogen oder einfach umgekehrt. Ergebnislos hat er auf mich eingeredet und trotzdem gewonnen, den Schwiegersohn seines Wohlwollens bekommen. Dafür hätte er Kaffee und Kuchen verdient.

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